Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 468-471

Verfasst von: Lutz Häfner, Göttingen

 

Stanislav V. Tjutjukin: Aleksandr Kerenskij. Stranicy političeskoj biografii (1905–1917gg.). Moskva: Rosspėn, 2012. 309 S., 1. Abb. = Ljudi Rossii. ISBN: 978-5-8243-1688-9.

Ritter der Revolution,Löwenherz,Sonne und Genius der russischen Freiheit,Retter des Vaterlandes“ – so lauteten einige Charakterisierungen und Epitheta, die die russische Presse im Frühjahr 1917 für Aleksandr F. Kerenskij fand. Mit größerer räumlicher Distanz urteilte dagegen gut einen Monat vor dem Oktoberumsturz Heinrich Cunow, den der Parteivorstand der SPD anstelle des zur USPD gewechselten Karl Kautsky 1917 zum neuen Herausgeber des theoretischen Parteiorgans Die Neue Zeit berufen hatte:Kerenski hat abgewirtschaftet.

Dieser Zeitraum steht im Mittelpunkt der vorliegende Biographie. Der 1935 in Moskau geborene Historiker Tjutjukin verfolgt in seiner Biographie Kerenskijs keinen bahnbrechenden Neuansatz. Theoretische Reflektionen über einen adäquaten biographischen Zugriff fehlen. Zwar hat der Verfasser bereits eine biographische Studie über denVater des russischen Marxismus, Georgij Valentinovič Plechanov, vorgelegt. Gleichwohl beschreitet er Neuland, denn als die bisherigen Schwerpunkte Tjutjukins sind die Revolutionen von 1905 und 1917, die Russische Sozialdemokratie, insbesondere die Men’ševiki, zu nennen. Diesen thematischen Rahmen erweitert der Verfasser um das Spektrum des neonarodničestvo, zu dem die Gruppierungen der trudoviki bzw. die Partei der Sozialrevolutionäre zählten. Ihnen fühlte sich Kerenskij zugehörig, ohne aber in der Partei der Sozialrevolutionäre tief verwurzelt zu sein (vgl. S. 117, 175–176, 284–285). Allerdings beschleicht den Leser aufgrund mancher Fehler und Unstimmigkeiten immer wieder der Eindruck, dass das neopopulistische Terrain für den Verfasser eine terra incognita ist.

Neben Einleitung und Schluss besteht die Biographie aus neun chronologisch gegliederten Kapiteln. Nach einer detaillierten, kritischen und gelungenen Übersicht über die sowjetische und russische Forschung sowie einem Exkurs über Richard Abrahams 1986 publizierte Kerenskij-Studie erörtert das erste Kapitel Kindheit, Jugend und erste politische Erfahrungen des Protagonisten im Kontext der Revolution von 1905. Hierzu zählte auch sein Wirken als Rechtsanwalt seit Herbst 1904, vor allem als Strafverteidiger in einer Reihe politischer Prozesse. Während der zweite Abschnitt Kerenskijs Tätigkeit als Abgeordneter der trudoviki in der IV. Staatsduma vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs thematisiert, behandelt der dritte die Zeit von August 1914 bis zur Februarrevolution. Als glänzender Redner hatte Kerenskij in der Staatsduma ein Forum gefunden, sich zu inszenieren. Indem Tjutjukin ausführlich aus den stenographischen Protokollen der Staatsduma zitiert, gelingt es ihm eindrucksvoll, die parlamentarische Atmosphäre im ausgehenden Zarenreich zur Geltung zu bringen, aber auch zu illustrieren, wie Kerenskij die Gegebenheiten politisch zu nutzen verstand. Dies galt u. a. für den sog. Aufstand 1916 in Turkestan. Kerenskij, der mehrere Jahre seiner Kindheit in Taškent verlebt hatte, und unmittelbar nach der Niederschlagung die Aufstandsgebiete besucht hatte, rechnete Anfang Dezember 1916 in einer mehrstündigen Dumadebatte, die allerdings hinter verschlossenen Türen stattfand, eindrucksvoll mit dem Ancien régime ab. Einen Teil der von der Duma eingebrachten Gesetzesentwürfe, beispielsweise über die Einführung der Zemstva auf volost-Ebene, verwirklichte die Provisorische Regierung nach dem Sturz des Zarismus. Dies verweist auf Kontinuitätslinien auch über epochale Zäsuren hinweg. Der vierte Teil behandelt die Tage der Februarrevolution, der fünfte Kerenskijs Doppelrolle als Mitglied des Exekutivkomitees des Petrograder Sowjets und als sozialistischer Justizminister in der Provisorischen Regierung. Das sechste Kapitel beleuchtet seine Anstrengungen als Kriegsminister, als der er allerdings, wie Tjutjukin zeigt, an den Kabinettssitzungen so gut wie nie teilnahm (S. 190); das siebte thematisiert sein Wirken als Premierminister. Die beiden letzten Teile behandeln denKornilov-Putschund die politische Agonie der Provisorischen Regierung in den letzten Tagen vor dem Oktoberumsturz.

Die Biographie ist konventionell. Tjutjukins Zielsetzungetwa die Vertiefung und Erweiterung einer Reihe von Sujets (S. 19)umfasst nicht einmal eine Seite. Statt die Zeit vor der Februarrevolution stärker zu akzentuieren, für die unser Wissen über Kerenskijs Denken und Handeln erweitert werden könnte, gilt das Interesse vor allem den bereits wiederholt erschöpfend erörterten Monaten Februar bis Oktober 1917. Dabei ist die Materialbasis überschaubar. Mit Ausnahme der grundlegenden Biographie von Richard Abraham findet westliche Literatur keine Berücksichtigung. Auf Archivalien verzichtete der Verfasser vollständig. Weder die Polizeiakten des Moskauer Staatsarchivs der Russländischen Föderation (GARF) noch der im St. Petersburger Russländischen Historischen Staatsarchivs (RGIA) befindliche Bestand der Staatsduma wurden ausgewertet. Dasselbe gilt auch für das Gebietsarchiv Saratov und seine Zweigstelle in Volsk. Tjutjukin verlegt übrigens Kerenskijs Wahlkreis in das benachbarte Wolgagouvernement Samara (S. 38). Hier hätten u.a. die Materialien der Gendarmerie, der Polizei, aber auch der Wahlbehörden Aufschluss über Kerenskijs Wahl in die IV. Staatsduma geben können. Selbst die Auswertung der Tagespresse der beiden Wolgastädte unterblieb. Dabei gewährt sie nicht nur Einblicke in Kerenskijs Wahlkampf, sondern auch – wie z.B. die Volžskaja Žiznin seine Versuche, der Wählerschaft politische Rechenschaft über seine Parlamentsarbeit abzulegen. Dementsprechend ist der Neuwert der Studie gering.

Weitere Defizite kommen hinzu. Wenig überzeugend wirken die krampfhaft anmutenden Versuche Tjutjukins, Berührungspunkte Kerenskijs und Lenins aufzuzeigen, zumal er den tieferen Sinn dieses Ansatzes seinen Lesern vorenthält (S. 4, 6, 19). Wie andere Autoren zuvor verweist Tjutjukin wiederholt auf Kerenskijs Zugehörigkeit zu den Freimaurern, die seiner Vita und seinem Handeln eine geheimnisvoll und verschwörerisch wirkende Aura zuteil werden lassen (S. 41, 293 et passim). Einen kausalen Nexus zwischen beidem stellt Tjutjukin aber nicht her. Solange er nicht den Nachweis führen kann, dass freimaurerische Ideale handlungsleitend waren, ergeht sich Tjutjukin in bloßen Spekulationen, aus denen sich kein Erkenntnismehrwert ergibt. Auch verliert sich die Darstellung in Detailbetrachtungen. Aus welchen Gründen auch immer misst Tjutjukin dem Umstand, dass Kerenskij nicht reiten konnte, größere Bedeutung bei (S. 176, 191). Hinzu kommen unglückliche Formulierungen: Dass Stolypin 1911 einem Attentat zum Opfer fiel, ist unbestritten, ob der Mörder hingegen einTerroristwar, wäre noch zu klären (S. 39). Das nach der Februarrevolution erscheinende Zentralorgan der PSR Delo Naroda bezeichnet Tjutjukin alslinkssozialrevolutionär(S. 280, 284). Schon ein Blick auf das Redaktionskollegium hätte ihn eines Besseren belehren können. Im Übrigen unterschieden sich die dort abgedruckten Artikel in Inhalt und Wortlaut deutlich von denen zeitgenössischer linkssozialrevolutionärer Periodika wie des Socialist-Revoljucioner in Helsingfors, anfänglich des Petrograder Organs Zemlja i Volja oder später des Znamja Truda.

Kerenskij entfachte, und dies rühmten zahlreiche Zeitgenossen, rhetorische Feuerwerke. Was aber nach dem Oktoberumsturz 1917 von Kerenskij und der Provisorischen Regierung politisch blieb, war ein Häuflein Asche. Das Urteil über die vorliegende Biographie fällt weniger entschieden aus. Sie hat durchaus ihre verdienstvollen Seiten. Der Stil ist flüssig. Vor allem Kapitel 2 und 3 sind ansprechend. Allerdings hätte zum besseren Verständnis der Rahmenbedingungen des politischen Handelns in der Staatsduma die parlamentarische Geschäftsordnung stärker berücksichtigt werden müssen, um zu verdeutlichen, dass die Abgeordnetenimmunität insgesamt und der Handlungsspielraum vor allem sozialistischer Abgeordneter nach dem Staatsstreich Stolypins vom 3. Juni 1907 beträchtlich eingeschränkt waren. Seit dem Zusammentreten der III. Staatsduma stellten der Dumavorsitzende und die rechtsliberal-konservative Mehrheit die formale Gleichheit der Abgeordneten in Frage. Die gegen linksliberale und linke Abgeordnete verhängten Ausschlussstrafen für ungebührliches Verhalten waren häufiger und länger als für rechte Abgeordnete. Dies war eine Folge der Mehrheitsverhältnisse, weil das Plenum über einen Ausschluss abstimmen musste. Gleichwohl spricht manches dagegen, dass ideologische Differenzen einen Modus vivendi verhinderten. Konstruktive Dialoge und lagerübergreifende Abstimmungsresultate kamen auch in der Staatsduma vor und sind durchaus als ein wichtiges Indiz gegen die hier von Tjutjukin in Anlehnung an Haimsons vertretende These der sozialen Polarisierung zu werten (S. 43, 290).

Insgesamt lässt die Biographie viele Fragen offen. Mit dem Streben Kerenskijs, die Interessen von Proletariat und Bourgeoisie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, erklärt Tjutjukin dessen politisches Scheitern. Ein solches Ansinnen, so Tjutjukin, gleicht einer Quadratur des Kreises. Lenin habe dies schnell erkannt (S. 291). Allerdings zeigt die Geschichte der Staaten, die in der Zeit des Ersten Weltkriegs keine revolutionäre Zäsur erfuhren, dass Kompromisse zwischen antagonistischen Gesellschaftsgruppen durchaus möglich waren. Wer aber von einer teleologischen und gesetzmäßigen Entwicklung aller Geschichte ausgeht, wird dies nicht eingestehen können.

        Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner, Göttingen über: Stanislav V. Tjutjukin: Aleksandr Kerenskij. Stranicy političeskoj biografii (1905–1917gg.). Moskva: Rosspėn, 2012. 309 S., 1. Abb. = Ljudi Rossii. ISBN: 978-5-8243-1688-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Tjutjukin_Aleksandr_Kerenskij.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2015 by Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg and Lutz Häfner, Göttingen. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.