Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 4, S. 675-677

Verfasst von: Lutz Häfner

 

Vladimir V. Svjatlovskij: Žiliščnyj i kvartirnyj vopros v Rossii. Izbrannye stati [Das Wohnungs- und Wohnraumproblem in Russland. Ausgewählte Artikel]. Moskva: Rosspėn, 2012. 375 S. Biblioteka ėkonomičeskoj mysli Rossii. ISBN: 978-5-8243-1610-0.

Vladimir Vladimirovič Svjatlovskij (1869–1927) war ein überaus produktiver Historiker und Politökonom, der sich an der Wende zum 20. Jahrhundert mit seinen materialgesättigten Untersuchungen zu den Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterschaft einen Namen machte. Seine wieder aufgelegte, erstmals 1902 publizierte interdisziplinäre Studie vermittelt nachhaltig die gesellschaftliche Aufbruchsstimmung, die das Zarenreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfasste. Die Städte erlebten infolge der Bauernbefreiung und Industrialisierung eine Massenmigration. Tausende strömten auf der Suche nach Arbeit und einer besseren Zukunft dorthin. Aber die Städte, und keineswegs nur die Kapitalen, waren hierauf nicht vorbereitet. Wohnungsmangel, Bodenspekulation und intensive Bautätigkeit waren die Folge. Die drei genannten Aspekte führten zu erheblichen Preissteigerungen. Der Bau-Boom überforderte in St. Petersburg die Verkehrsinfrastruktur. Die benötigten Materialien konnten weder durch die Eisenbahn noch auf Schiffen, geschweige denn auf der Straße in hinreichender Quantität herangeschafft werden. Auch dieser Faktor wirkte kostentreibend. Hinzu kam, dass sich die Schere zwischen fertiggestelltem Wohnraum und Bevölkerungswachstum immer weiter öffnete. Ein öffentliches Skandalon aber waren die unbeschreiblich unhygienischen und unmenschlichen Lebensverhältnisse der städtischen Unterschichten, insbesondere in der Hauptstadt. Kein Dachboden, kein fensterloser Kellerraum, der zudem aufgrund des hohen Grundwasserspiegels und notorisch durchlässiger Senkgruben oft feucht war, der nicht vermietet worden wäre (S. 25, 53–56, 59–60): Auch in anderen russischen Großstädten war das Phänomen derEckenschläferweit verbreitet.

Diese Rahmenbedingungen erklären, weshalb dieWohnungsfrageeinen solchen Stellenwert im zeitgenössischen Diskurs im Zarenreich wie auch europaweit erhielt. Als Katalysator wirkte hier wie dort die Choleraepidemie von 1892. Als Robert Koch das verwinkelte und noch vormodern geprägte Hamburger Gängeviertel, gleichsam das lokale Epizentrum der Cholera in der Hansestadt, besuchte, rief er aus:Meine Herren, ich vergesse, daß ich in Europa bin.In St. Petersburg oder anderen schnell wachsenden Städten des Zarenreichs wäre sein Kommentar kaum anders ausgefallen. Gerade aber die vertikale soziale Segregation in russischen Städten ließ die Oberschichten viel unmittelbarer mit den Unterschichten in Berührung kommen als die deutlicher ausgeprägte regionale in den westeuropäischen (S. 26). Als die Cholera im Zarenreich 1893 erneut grassierte, ereignete sich in Moskau einer der ersten Krankheitsfälle ausgerechnet in der noblen Tverskajaund zwar in einer verdreckten Kellerwohnung. Diese Kommunikationsknoten unterschiedlicher Schichten als Ort der Krankheitsübertragung thematisierte auch Svjatlovskij in seinem Werk, indem er beispielsweise auf die Kontakte zwischen wohlhabenden Kunden und den möglicherweise infizierten Angestellten in den luxuriösen Konsumtempeln hinwies.

In die vorliegende Ausgabe haben zwei Untersuchungen Svjatlovskijs Eingang gefunden, zum einen eine auf Russland zentrierte Untersuchung des Wohnraums und des Wohnens. Am Beispiel der beiden Hauptstädte, Odessas und Warschaus sowie einer Reihe von Gouvernements- und Kreisstädten untersucht der Verfasser nicht nur die Wohnbedingungen im Allgemeinen und der Arbeiter im Besonderen, sondern er thematisiert auch die Bautätigkeit und Ansätze zur Behebung dieses drängenden sozialen Problems. Zum anderen wird eine kürzere und europaweit vergleichende Studie zur Wohnungsfrage wieder abgedruckt. Als wegweisend schilderte Svjatlovskij dabei das englische Beispiel. Insbesondere der Ausbau des innerstädtischen Nahverkehrs und die auch für schmal bemessene Budgets von Arbeitern erschwinglichen Nahverkehrstarife hätten hier nachhaltig zu einer Linderung der Wohnungsfrage beigetragen.

Ein Blick in die zeitgenössische Publizistik unterstreicht den Stellenwert der Wohnungsfrage im internationalen Kontext. Es fand sich kaum eine überregionale Tageszeitung, kaum ein populäres, geschweige denn eindickes Journal, das sich diesem Thema nicht gewidmet hätte. Dasselbe galt auch für die wissenschaftliche Publizistik unterschiedlichster Fachgebiete. DieWohnungsfragegehörte zu den brennenden sozialpolitischen Themen, und der Boden, auf dem sie ihr Ferment fand, war durch allgemeine Trends und auch russische Spezifika seit mehreren Jahrzehnten bereitet. Zu nennen wäre insbesondere die Entwicklung der wissenschaftlichen Disziplin der Hygiene als Teilbereich der humanmedizinischen Forschung. Der Schweizer Friedrich Huldreich Erismann [Fedor Fedorovič Ėrisman] prägte seit den frühen siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts die hygienische Forschung im Zarenreich mit seinen Publikationen nachhaltig. Er trug nicht nur in großem Maße dazu bei, hygienische Kenntnisse in der Bevölkerung zu verbreiten. 1884 wurde er auf den Hygiene-Lehrstuhl an der Moskauer Universität berufen und fungierte zugleich als Leiter des städtischen Laboratoriums, das für bakteriologische, chemische und hygienewissenschaftliche Analysen aller Art zuständig war.

In den einschlägigen medizinischen Journalen wie Vračebnaja Gazeta, Obščestvennyj Vrač, Sovremennaja Medicina i Gigiena, Obščestvennaja Medicina, Žurnal Russkogo Obščestva Ochranenija Narodnogo Zdravija, Promyšlennosti Zdorove oder auch Gigiena i Sanitarija diskutierten führende Hygieniker und Sozialmediziner wie Vasilij Pavlovič Kaškadamov, Dmitrij Nikolaevič Žbankov, Zacharij Grigorevič Frenkel, aber auch die sozial überaus engagierte Armenärztin der St. Petersburger Stadtverwaltung Marija Ivanovna Pokrovskaja Lösungsmöglichkeiten dersozialen Frage, als deren Bestandteil sie das Wohnraumproblem erachteten. Dabei vermischten sich die Versammlungsebenen und -foren. Auch die Grenzen zwischen gesprochenem und geschriebenem Wort waren fließend. Eine eigene Sektion der einflussreichenGesellschaft zur Bewahrung der Volksgesundheit beschäftigte sich schon Mitte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts intensiv mit der Wohnungsfrage. Andere Akteure sollten für eine konzertierte Aktion gewonnen werden: Der Staat, die Stadtverwaltungen, privatwirtschaftliche Wohnungsbaugesellschaften und gemeinnützige Genossenschaften.

In dieses Umfeld fügte sich Svjatlovskijs politökonomische Forschung problemlos ein. Zwar charakterisierte er die russischen Verhältnisse gemessen an den westeuropäischen nicht als schlechter (S. 37, 351), doch musste er konzedieren, dass in Westeuropa staatliche Gesetze regelnd in den Wohnungsmarkt eingriffen und Wohnungsbaugenossenschaften viel weiter verbreitet waren als im Zarenreich (S. 304 ff., 333–334). Wenn Svjatlovskij formulierte, dass das Ancien régime die Gründung der Wohnungsbaugenossenschaften nicht verhindert habe, handelte es sich um eine vielsagende Formulierung (S. 224). Ein Grund für ihren größeren Anteil am Wohnungsmarkt insbesondere im Deutschen Reich dürfte in der starken gesellschaftlichen und politischen Stellung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften gelegen haben. Die Rolle der Stadtverwaltungen beobachtete Svjatlovskij kritisch. In ihnen erkannte er einen ökonomisch eigeninteressierten Akteur und nicht einen unparteiischen Makler, weil sich die Stadtväter vor allem aus der immobilienbesitzenden Zensusgesellschaft rekrutierten und Mieter zumeist erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts in einigen wenigen Städten Russlands und in geringem Maße das Wahlrecht ausüben durften. Aber auch diese Wähler aus zumeist großen und teuren Wohnungen konnten kaum als Sachwalter der Interessen der Unterschichten betrachtet werden. Auch von den Architekten war wenig Unterstützung zu erwarten (S. 39–40), wenngleich einer von ihnen, nämlich M. Dikanskij in seiner Studie aus dem Jahre 1912 die sozialen Erfahrungen und die Lösungsversuche der Wohnraumfrage diskutierte.

Die mit Mitteln der Deutschen Bank geförderte Edition ist zu begrüßen, weil ein politökonomischerKlassikerwieder zugänglich gemacht worden ist. Das Geleitwort des führenden Analysten der Deutschen Bank überrascht mit einer deutlich positiveren Bewertung der Leistungen der russischen städtischen Selbstverwaltungsorgane auf dem Gebiet des Wohnungsbaus als sie bei Svjatlovskij zu finden ist. Die aus der Feder des an der MGU lehrenden Historikers Aleksandr P. Ševyrev stammende Einleitung legt besonderen Wert auf Svjatlovskijs aus seiner Vita kaum zu erklärenden etatistischen Standpunkt. Bis zur Revolution von 1917 gab er die Hoffnung auf ein energisch handelndes Ancien régime, das die Wohnungsfrage in seiner Vorstellung mit einem Federstrich hätte lösen können, nicht auf. Es entbehrt nicht der Ironie der Geschichte, dass auch der sowjetische Staat der Lösung des Problems kaum näher kam. Mit einem Blick auf die heutige Situation der Wohnungsfrage in beiden Kapitalen lässt sich festhalten, dass das Phänomen der Eckenschläfer zwar der Vergangenheit angehört, die spekulativen Elemente des Wohnungsbaus und des Immobilienmarktes aber auch gut hundertzehn Jahre nach der Erstveröffentlichung dieser Studie die Wirklichkeit prägen.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Vladimir V. Svjatlovskij: Žiliščnyj i kvartirnyj vopros v Rossii. Izbrannye stat’i [Das Wohnungs- und Wohnraumproblem in Russland. Ausgewählte Artikel]. Moskva: Rosspėn, 2012. 375 S. = Biblioteka ėkonomičeskoj mysli Rossii. ISBN: 978-5-8243-1610-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Svjatlovskij_Ziliscnyj_i_kvartirnyj_vopros.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2015 by Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg and Lutz Häfner. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.