Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 3, S. 453‒456

Verfasst von: Lutz Häfner

 

Sperling, Walter: Der Aufbruch der Provinz: Die Eisenbahn und die Neuordnung der Räume im Zarenreich. Frankfurt/M., New York: Campus, 2011 (= Campus Historische Studien, 59), 481 S., Kt., Abb. ISBN: 978-3-593-39431-2.

Im Vordergrund der Bielefelder Dissertation steht die Eisenbahn, doch geht es weniger um sie als Element der gesellschaftlichen Transformation, sondern um Gespräche, Verhandlungen und Konflikte zwischen den Menschen, die die Planungen und den Bau von Eisenbahnlinien in der Provinz, konkret den Gouvernements Jaroslavl’ und Saratov, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1917 initiierten (S. 10-13, 24). Sperling versteht seine Untersuchung als eine Kommunikationsgeschichte, die „kulturhistorisch indoktriniert, sozialgeschichtlich infiltriert und technikhistorisch informiert“ sei. Die negativen Konnotationen der beiden ersten Verben überraschen – der Verfasser störte sich daran nicht. Nach- bzw. übergeordnetes Ziel ist es, den Wandel der sozialen und politischen Ordnung des Zarenreichs zu analysieren (S. 13). Sperling argumentiert, dass die Kommunikation zwischen Repräsentanten von Peripherie und Zentrum über die Eisenbahn Vorstellungen von Staat und Gesellschaft sowie deren Institutionen überhaupt erst erzeugt habe (S. 62).

Das Werk ist systematisch in drei Teile mit insgesamt zehn Kapiteln gegliedert. Der erste Teil beschäftigt sich mit der Eisenbahn, ihren Planungen, ihrem Bau und den durch sie in der Provinz ausgelösten Reaktionen. Der zweite ist den regionalen Räumen, ihrer Erfindung und Konstruktion, ihrer Geschichte, Historiographie und ihrer Erinnerung sowie ihrem Verhältnis zum Imperium gewidmet. Der dritte und letzte Abschnitt thematisiert den durch den Eisenbahnbau verursachten materiellen Wandel: Bodenspekulation, Enteignungen, finanzielle Kompensationen für Landabtretungen, Entstehung von Infrastruktur, aber auch am konkreten und überaus instruktiven Fallbeispiel des im Gouvernement Saratov gelegenen Dorfes Romanovka die oft gewaltvolle bäuerliche Kommunikation in der Revolution von 1905. Eine vergleichbare Episode aus dem landwirtschaftlich gänzlich anders strukturierten Jaroslavl’ fehlt jedoch, so dass der Erkenntniswert in Hinblick auf eine mögliche Generalisierung gering bleibt. Die vorliegende Studie ist im Übrigen asymmetrisch komparativ konzipiert: Jaroslavl’ erfährt deutlich geringere Beachtung als Saratov.

Das Motto Sine ira et studio gilt für Sperlings Monographie nicht. Kühn in der eigenen Thesenbildung, bricht der Autor mit historischen Betrachtungsweisen und älteren master narratives, zu denen die Sozialgeschichte, die Gesellschaftsgeschichte oder die Zivilgesellschaft zählen. Er argumentiert mit Verve, ohne aber seine Behauptungen immer zu belegen (S. 116, 190). Partiell fährt der Autor allzu schweres Kaliber auf. Seine Breitseiten gegen das Untersuchungskonzept der Zivilgesellschaft bzw. die Sozialgeschichte verursachen überflüssige Kollateralschäden. Es fehlt die Präzision, wie folgendes Beispiel illustriert. Sperling schreibt, dass in Anlehnung an Max Webers Überlegungen über den Zusammenhang zwischen protestantischer Ethik und der Genese des Kapitalismus die „Altgläubigen als risikofreudige und gewinnorientierte Quergeister entdeckt worden seien“. In der Fußnote verweist er ohne Angabe einer Seitenzahl auf M. Hildermeiers Aufsatz „Alter Glaube und Neue Welt“. Diese Wiedergabe ähnelt dem Original bloß entfernt und geht an dessen Argumentationslinie vorbei. Hildermeier stellte die Altgläubigen keineswegs als „risikofreudige […] Quergeister“ dar, sondern argumentierte, dass sie Verluste durch Unfälle und Katastrophen leichter kompensieren konnten, weil ihnen die Solidarität ihrer Gemeinschaft half und ihnen dies in Zeiten, in denen Versicherungen fehlten, einen Vorteil verschaffte. Im Übrigen wird Hildermeier auf den Kopf gestellt, weil er jede Analogie zwischen protestantischem und altgläubigem Geist und damit Webers Ansatz als unzutreffend ablehnt (S. 63). Zugegeben: Wissenschaftlicher Fortschritt lebt von der Kontroverse, aber die Kontrastfolien, an denen man sich abarbeitet, sollten nicht eigens passend konstruiert werden.

Die Darstellung arbeitet mit binären Mustern, mit Schwarz-Weiß-Kontrasten, denen immer wieder die differenzierenden Grautöne und die Schattierungen fehlen. Das Proletariat sei nicht der städtischen Zivilisation, sondern den vormodernen Vorstellungen und Konfliktkulturen seiner (ländlichen) Herkunftsorte verpflichtet gewesen (S. 18 u. 132). Für größere Teile des Proletariats mag dies gegolten haben, gleichwohl unterlag die werktätige Bevölkerung einem Wandel. So hat es einerseits den Typus des Semen Kanatčikov gegeben und anderseits jene, die sich dem städtischen Umfeld adaptierten, ihre bäuerliche Kultur mit städtischen Konsum- und Verhaltensmustern mischten und bereicherten, wie dies Wayne Dowler in seiner jüngst publizierten Studie „Russia in 1913“ [S. 112, 119 ff.] ausführt. Hinzu kommt ein wichtiger Gender-Aspekt; denn die Bäuerinnen, die in die Stadt migrierten, konnten der Enge der patriarchalischen Familienstrukturen des Dorfes entfliehen. Und schließlich sind die erheblichen finanziellen Transferleistungen der Arbeitsmigranten in das Dorf zu erwähnen. Diese Facetten einschließlich der raschen Entwicklungsprozesse klammert Sperling jedoch aus. Er präsentiert (s)eine Sicht, ohne andere Perspektiven in Erwägung zu ziehen, zu erproben, um jene dann – als gleichsam empirisch widerlegt – zu verwerfen, weshalb die Urteile nicht immer nuanciert ausfallen.

Laut Sperling hätten die Eliten – unklar bleibt, welche er im Auge hat – ungeduldig versucht, das Zarenreich zu modernisieren. „Ihr Scheitern an der Provinz bremste sie nicht, sondern bestärkte sie in ihrer Radikalität. Daher zeigten selbst die Gemäßigten unter ihnen Verständnis für Terror im Namen des Fortschritts“ (S. 17 f., Zitat S. 18). Belegt wird diese Aussage u. a. mit Anna Geifmans Studie „Thou Shalt Kill“. Über Geifman, deren Arbeit im erzkonservativen Dunstkreis Richard Pipes’ mit seiner prononcierten Abneigung gegen die russische Intelligencija entstand, ist zu sagen, dass sie sehr einseitig gegen die Repräsentanten des russischen Liberalismus argumentiert und ihnen eine Nähe zum russischen Terror attestiert – Sperling hätte, da er Teile der Gesellschaft und nicht den Staat meint, besser von Terrorismus sprechen sollen. Dabei haben die Liberalen diesen erst seit etwa 1904 als Ultima ratio in der Auseinandersetzung mit dem als illegitim wahrgenommenen zarischen Staat, der vor Willkür, verbreitetem Ausnahmerecht und „Staatsterror“ nicht zurückscheute, und zugleich als politisches Zugeständnis an die Sozialrevolutionäre akzeptiert. Diese Akzeptanz des Terrorismus in Teilen des liberalen Lagers währte bis etwa 1907. Danach ächteten sie, wie es das ZK-Mitglied der Konstitutionellen Demokraten Gredeskul einforderte, Terror und Terrorismus gleichermaßen.

Laut Sperling waren Netzwerke der Eliten, insbesondere patriarchale Strukturen und persönliche Verbindungen, die eigentlich treibenden Kräfte der Provinz. Warum analysiert er diese interpersonalen Beziehungen nicht genauer? Warum hat er keine Kollektivbiographie erstellt oder zumindest einleitend den Gedanken erörtert, um ihn dann unter Nennung guter Gründe zu verwerfen? Wie sah es mit Querverbindungen zwischen Hauptstädtern und Provinzlern aus, was lässt sich über Abitur- und Universitätsjahrgänge, Verkehrskreise, Regimentskameradschaften oder Abhängigkeitsverhältnisse im Rahmen von Klientelsystemen sagen? Auch wäre es wichtig zu erfahren, wie sich Gemeinsamkeiten konstituierten und wie sich die Bruchlinien, die auch in den lokalen Gesellschaften zu konstatieren sind, erklären lassen. Die unterschiedlich gelagerten wirtschaftlichen Interessen der balašovcy und saratovcy können wohl als ein wichtiger Punkt des Dissens innerhalb der Region Saratov angeführt werden (vgl. S. 103, 202 f., 208). Der Sozialhistoriker in Erweiterung operierte mit multiplen Identitäten der dramatis personae; aber welche Identität gewann aus welchen Gründen bei der Entscheidung über den Verlauf einer Eisenbahnlinie die Oberhand? Sperling fasst seine Ausführungen dahingehend zusammen, dass die Eliten der Provinz einer Vorstellung von ihrer Provinz anhingen (S. 289). Mir scheint plausibler, dass es einen Grundtenor gab, gleichsam ein Thema mit zahlreichen lokalen Variationen. Wenn Sperling betont, dass die Geschichte der Region von Saratov aus erzählt wurde, dann hing das auch mit den Rahmenbedingungen zusammen, weil nämlich in den Kreisstädten Presseorgane viel später als in Saratov erschienen. Lässt sich aber Sperlings Feststellung zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Blick auf das rapide Wachstum Caricyns noch aufrechterhalten? Solche Prozesse bleiben im Dunkeln, auch weil die Zeit nach der Jahrhundertwende nur kursorisch behandelt wird. Ein Blick auf die Entwicklung geselliger und gesellschaftlicher Foren, Presseorgane und vor allem die 1882 in Saratov eröffnete Börsengesellschaft als einflussreiches Interessenvertretungsorgan der lokalen Unternehmer mit glänzenden Verbindungen zu anderen Wirtschaftszentren und -verbänden sowie den hauptstädtischen Ministerien hätte die Argumentation sinnvoll ergänzt.

Patronagebeziehungen sind unbestritten wichtig. Aber eine lokalhistorisch untermauerte Beweisführung bleibt Sperling schuldig. Seine Argumentation kulminiert in dem Zitat Pobedonoscevs: „Institutionen haben keine Bedeutung. Alles hängt von Personen ab.“ (S. 173) Erstens fehlt die Quellenkritik. Zweitens dürften sich auch dieser Position widersprechende Aussagen finden lassen. Drittens schließlich ist ein solches Diktum kein Beweis, sondern bestenfalls ein individuelles Bekenntnis, das es zu kontextualisieren und interpretieren gilt. Schließlich müsste Sperling (er)klären, wie in Situationen, in denen die Interessen unterschiedlicher lokaler Klientelsysteme kollidierten, Entscheidungen herbeigeführt wurden, um seine Position plausibel erscheinen zu lassen, es habe „in der Hauptstadt keine politischen Parteien […], sondern nur Patrone der Provinzen“ gegeben (S. 180). Welche Auswirkungen hatte im Übrigen ein Scheitern des hauptstädtischen Patrons auf seine Beziehungen zu den Gefolgsleuten in der Provinz?

Patriarchale Strukturen und persönliche Verbindungen hätten die Provinz mehr geprägt als Zirkel, Salons und – wie Sperling in seinem Schlusskapitel hinzufügt – Assoziationen, „die in ihrer Abgeschiedenheit eine Ferne zum verhassten ‚Regime‘ pflegten“ (S. 165 [Zitat], 408). Auch hier scheint Sperling seine Kontrastfolie zu konstruieren. Salons und Assoziationen waren prinzipiell offen gedachte Foren. Insbesondere Salons lebten nicht von der Abgeschiedenheit, weil dann in den hier gepflegten Konversationen die gähnende Langeweile regiert hätte. Ihr Elixier war der Gedankenaustausch und auch die Kontroverse. Zweifel sind erlaubt, ob Sperlings Generalisierung mit Blick auf die lokalen Saratover Salons und Assoziationen zutrifft. Es mag solche gegeben haben, in denen Kritik und Distanz zum Ancien régime geübt wurde, ob das ‚Regime‘ aber jenseits sozialistischer Zirkel verhasst war, bleibt bloße Behauptung. Sper­lings These über die Bedeutung der Netzwerke kann zutreffen, bleibt aber ohne lokalgeschichtlich erhärteten empirischen Befund. Wäre es nicht angemessener, hieraus keine Frage von „entweder-oder“, sondern eher von „sowohl – als auch“ zu machen?

Manche Fragen bleiben offen. Wie ist es zu erklären, dass die Eisenbahnlinie Moskau-Saratov zu einem Projekt mit höchster Dringlichkeit avancierte, obwohl sie in den ersten staatlichen Eisenbahnnetzentwurf keine Aufnahme gefunden hatte (vgl. S. 66)? War dies eine Folge lokaler Initiative oder möglicherweise ökonomischen Interessen einzelner Regierungsmitglieder geschuldet, deren Güter im Einzugsbereich der Trasse lagen? Darüber hinaus verzichtet Sperling wiederholt auf eine Interpretation, so dass etwaige Schlussfolgerungen dem Leser überlassen werden (S. 87, 127). Wenn sich lokale Akteure bei Petitionen an den Zaren oder seine Regierung z. B. über das statuarisch fixierte Kommunikationsprocedere hinwegsetzten, dann könnte man dahinter nicht nur einen Partizipationswunsch vermuten, sondern zugleich auch ein Aufbegehren gegen die traditionale Ordnung des Ancien régime. Sperling kommentiert dies jedoch nicht (S. 127).

Was geschah nach der Revolution von 1905? Wie hat sich die Situation der Bevölkerung in der von der Eisenbahn penetrierten oder erschlossenen Provinz in einem längeren Zeitraum gewandelt? In welchem Maße prägte die Eisenbahn zu dieser Zeit Diskussionen der Öffentlichkeit in der Provinz; wandten sich die Eliten anderen Themenfeldern zu? Blieb die Haltung der Bevölkerung gegenüber der Eisenbahn gleich, war sie Wandlungen unterworfen und, wenn ja, welchen und warum? In welchem Umfang haben die Bauern der hier untersuchten Gouvernements die Eisenbahn als Transportmittel bei ihrer Arbeitsmigration oder für die Vermarktung ihrer landwirtschaftlichen Erzeugnisse genutzt und das Vehikel der Moderne dadurch mit anderen Augen sehen gelernt?

Zu bedauern sind kleinere, die lokalen Saratover Akteure betreffende Fehler, wie unzutreffende Initialen, Berufsangaben, Funktionen u. a. m. (S. 125). Sperling irrt, wenn er Sitzungen der Stadtduma als exklusiven Raum bezeichnet. Sie standen vielmehr in aller Regel der interessierten Öffentlichkeit offen (S. 172). Stolypin war keineswegs Russlands erster Premierminister. Vor ihm übten Vitte und Goremyškin dieses Amt aus (S. 172). Im Übrigen beziffert Sperling die Kosten eines Streckenkilometers mit 6-8.000 Rubel lediglich auf ein Zehntel der tatsächlichen Summe (vgl. S. 88 f., Anm. 92).

Die Studie hinterlässt einen ambivalenten Eindruck. Die Monographie ist quellen- und materialgesättigt. Sie verfügt über mehrere Karten, zahlreiche farbige Abbildungen und ein knappes Sachregister. Die Darstellung regt an – auch zum Widerspruch. Der Verfasser hat Großes im Auge gehabt, vielleicht hätte er lieber näher bei seinen Schwellen bleiben sollen.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Sperling, Walter: Der Aufbruch der Provinz: Die Eisenbahn und die Neuordnung der Räume im Zarenreich. Frankfurt/M., New York: Campus, 2011 (= Campus Historische Studien, 59), 481 S., Kt., Abb. ISBN: 978-3-593-39431-2., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Sperling_Aufbruch.html (Datum des Seitenbesuchs)

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