Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), 1, S. 137-139

Verfasst von: Lutz Häfner

 

Matthew Rendle: Defenders of the Motherland: The Tsarist Elite in Revolutionary Russia. Oxford, New York: Oxford University Press, 2010. XII, 274 S., 2 Ktn. ISBN: 978-0-19-923625-1.

Zweifellos ist der Elitenbegriff wissenschaftlich umstritten. Gemeinhin unterscheidet die Forschung drei Typen: Werteliten, Funktionseliten und Machteliten. Derartige methodisch-theoretische Überlegungen stellt Rendle nicht an, sondern spricht einleitend allgemein von „Eliten“, ohne sie zunächst zu differenzieren. Ihnen attestiert er für die Zeit der russischen Revolution beträchtliche interne Rivalitäten und Grabenkämpfe sowie eine Unfähigkeit, jenseits einer negativen Integration auf der Basis des Antibolschewismus eine unifizierende Ideologie bzw. ein kohärentes soziales und politisches Programm zu formulieren (S. 3). Daraufhin führt er aus, dass die politischen, militärischen und sozialen Eliten im zarischen Russland in ihrer überwiegenden Mehrheit dem Stand des erblichen Adel angehört hätten. Mit dem Hinweis darauf, dass die orthodoxe Geistlichkeit und die Wirtschaftseliten überwiegend nichtadlig und wiederholt Forschungsgegenstand gewesen seien, beschränkt er sich im Folgenden ausschließlich auf die Untersuchung des Erbadels (S. 3f) Der aber war, wie Rendle selbst einräumt, überaus heterogen, und allein die Zugehörigkeit zu diesem Stand war keineswegs gleichbedeutend mit Latifundienbesitz. Daher waren nicht wenige Erbadlige gezwungen, sich andere Einnahmequellen zu erschließen: in den freien Professionen, in Staat, Universitäten und Verwaltung. Zwar sind die von Rendle angeführten Zahlen, dass 1914 90 % der Minister, 80 % der stellvertretenden Minister, 81 % der Senatoren, 97 % der Gouverneure und 84 % der Botschafter und Gesandten erbadlig gewesen seien, beeindruckend, doch korreliert er diese Prozentangaben nicht mit ihrem Landbesitz und lässt damit den Aufstieg in den Erbadel über den Dienst außer acht. Methodisch steht die Monographie also eher auf tönernen Füßen. Gemäß einer Enquete aus dem Jahre 1903 verfügten 215 von 255 erbadligen General­leut­nants, dies entspricht 80,7 %, über keinen Landbesitz. Bei den Generalma­joren waren es sogar 90,9 %. Von den 3765 Beamten, die 1903 einen der vier obersten Dienst­ränge bekleide­ten, mit denen im Zivildienst der erbliche Adel erworben wurde, verfügte ein Drittel über keinerlei Landbesitz. Bis 1914 vergrößerte sich ihr Anteil weiter. In ihrer Monographie „Social Identity in Imperial Russia“ hat Elise K. Wirtschafter ausgeführt, dass 1905 fast zwei Drittel des Adels keinen Grund und Boden besessen hätten. Unabhängig davon stellt sich die Frage, welche Identität bei diesen hier untersuchten funktionalen Eliten dominant gewesen ist: die berufliche oder die des Grund besitzenden Adels? Diese Frage jedoch wirft Rendle erst gar nicht auf.

Im Kern geht es Rendle darum zu zeigen, welche Erfahrungen die früheren zarischen Eliten und ihre Organisationen seit der Februarrevolution gemacht und wie sie auf die veränderten sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen reagiert haben (S. 1). Rendle formuliert einleitend die These, es sei irreführend davon auszugehen, die einstigen Eliten hätten politisch nur eine reaktive, autoritäre Option besessen. Auch hält er es erkenntnistheoretisch zurecht für kontraproduktiv, Eliten inhärent als konterrevolutionär zu charakterisieren, da es ihnen keineswegs darum gegangen sei, das Ancien régime zu restituieren, sondern vielmehr die Folgen der Ereignisse seit Februar 1917 einzugrenzen und Kontrolle über die politische Entwicklung auszuüben, um so ihren Einfluss und ihre führende gesellschaftliche Position zu konservieren (S. 2f).

Die Monographie umfasst sieben Kapitel. Die beiden ersten – Erster Weltkrieg und Februarrevolution – sowie das abschließende – Oktoberrevolution – folgen dem chronologischen Prinzip. Die Übrigen thematisieren unter systematischen Gesichtspunkten den Adel, die Gutsbesitzer, die Offiziere und die Konterrevolution.

Laut Rendle seien die Eliten im Ersten Weltkrieg keineswegs mehr Stützen des Ancien régime gewesen, sondern hätten sich in der politischen Zwickmühle befunden: Einerseits hätten sie den Zaren und sein Regiment abgelehnt und einen zukünftigen systemischen Wandel in Russland begrüßt, anderseits seien sie aber im Zusammenhang mit der befürchteten Revolution um die – besser: ihre – Zukunft besorgt gewesen (S. 32f).

Die Darstellung ist wiederholt zu undifferenziert. So konstatiert der Verfasser, dass die Mehrheit des Offizierskorps unpolitisch gewesen sei. Angesichts des zarischen Verbots für Offiziere, sich parteipolitisch zu engagieren, klingt das einleuchtend. Gleichwohl wäre eine Binnendifferenzierung notwendig. In den niederen Offiziersrängen, bei jenen, die ihre Offizierspatente erst infolge der hohen Verluste zu Beginn des Ersten Weltkriegs erhalten hatten, sowie jenen, die in den Garnisonen des Hinterlandes ihren Dienst versahen, dürfte die Akzeptanz des politischen Wandels wohl ausgeprägter gewesen sein als unter den Generälen. Hierüber schweigt sich der Verfasser allerdings aus. Zwar verweist Rendle auf das Argument David Longleys, dass politisches Wohlverhalten gegenüber der Provisorischen Regierung opportun gewesen sei, weil es einen Karrieresprung bedeuten konnte. Allerdings unterbleiben quantifizierende Aussagen, beispielsweise von wie vielen Generälen Stellungnahmen zu den politischen Veränderungen des Jahres 1917 vorliegen, in welchem Sinne sie sich äußerten und ob diese Positionen eventuell im Laufe der Radikalisierung der revolutionären Massen einem Wandel unterlagen. Inwieweit von Einzelnen, die Rendle erwähnt, auf die Gesamtheit der Elite geschlossen werden kann, bleibt unklar. Wenn generalisierende Aussagen gemacht werden, ist die empirische Basis z. T. dürftig. So konstatiert Rendle – gestützt auf den Tagebucheintrag der in der Hauptstadt lebenden Fürstin Sayn-Wittgenstein: „For many nobles, their first contact with the revolution came in the form of searches, violence, arrests or verbal abuse.“ (S. 49) Ist diese Aussage überhaupt zutreffend? Für Odessa präsentiert Rendle ein Gegenbeispiel. War sie eventuell nur ein hauptstädtisches Phänomen? Welche Adligen waren denn überhaupt Opfer von Haussuchungen, Verhaftungen oder Schmähungen? Wie sah es in den Provinzen aus? Woran war der Adlige, wenn er nicht Uniform trug oder auf seinem Gut lebte, zu erkennen? Auf diese Fragen bleibt uns Rendles Studie Antworten schuldig.

Rendles Darstellung ist wiederholt punktuell und statisch, was angesichts der sich im Verlaufe einer Revolution beschleunigenden Zeitläufte kaum angemessen ist. Im Übrigen sei mit Blick auf den Titel die Frage erlaubt, in welchem Umfang der „Schwertadel“ à la General M. D. Bonč-Bruevič an der Verteidigung der „sozialistischen Vaterlands“ beteiligt gewesen ist. Rendle geht immerhin von 30 % des gesamten Offizierskorps aus dem Herbst 1917 aus, also 75.000 Offizieren, darunter 775 Generälen, die in der Roten Armee dienten (S. 225f). Im Übrigen bleibt zu fragen, ob die niederen Offiziersränge, diese homines novi des russländischen Adels, überhaupt zu den von Rendle untersuchten Eliten zu zählen sind. Insgesamt erscheint der Titel unpassend. Um ihn zu rechtfertigen, wäre es notwendig gewesen, zeitgenössische Patriotismuskonzepte zu untersuchen. Dies leistet die Studie allerdings nicht. In dem dem Gutsadel gewidmeten dritten Kapitel wird nämlich deutlich, dass nicht hehre Ziele wie die Verteidigung des Vaterlandes die Gutsbesitzer umtrieben, sondern vielmehr ihre materiellen Interessen. Es ging ihnen darum, ihr Eigentum zu sichern, keine soziale Abwärtsmobilität zu erfahren, sondern ‚oben zu bleiben‘. Sie wurden dabei zu glühenden Verfechtern der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere des Rechts auf Eigentum. Angesichts der Traditionen des Ancien régime mutet diese Verhaltensweise wie ein Ausdruck einer nahezu als demokratisch zu bezeichnenden Moderne an. Im Übrigen wirkt der Aufbau des Kapitels nicht stringent. Warum wird hier beispielsweise erwähnt, dass der Petrograder Sowjet Anfang März 1917 das Erscheinen äußerst rechter Zeitungen wie „Golos Rusi“, „Russkoe znamja“ oder „Zemščina“ unterband (S. 56). Handelte es sich um Zeitungen von Adligen für Adlige? Lasen Adlige keine anderen Zeitungen? Welche Reaktionen kamen aus dem Adel? Hier zumindest fehlt eine Verknüpfung. Wenn der Autor beispielsweise aus einem in Tula Ende März 1917 verfassten Bericht zitiert, dass die Unrast eskaliere, Anarchie und Tyrannei herrschten, dann stellt sich die Frage nach dem Verfasser, seiner Intention, seinem sozialen und politischen Hintergrund, ob er Augenzeuge war oder sein Bericht auf Gerüchten basierte und überhaupt nach der Kontextualisierung (S. 67).

Rendle vertritt auch die Auffassung, dass Antisemitismus im Adel in der Russischen Revolution von 1917 kaum zu beobachten gewesen sei (S. 7, 233). Angesichts der häufigen Gleichsetzung von Sozialismus und Judentum ist es fraglich, ob der Adel dieses Feindbild im Jahre 1917 nicht doch häufiger strapazierte als vom Verfasser wahrgenommen.

Abschließend lässt sich festhalten, dass die von Rendle untersuchten Eliten nicht mehr als ein Konglomerat dissonierender Elemente darstellten. Diese Heterogenität erklärt vielleicht auch, weshalb es ihnen nicht gelang, eine attraktive Integrationsstrategie zu entwickeln. Die Parole vom einen und unteilbaren Russland war es jedenfalls nicht. Viel attraktiver war der Ruf nach ‚law and order‘ auch nicht (S. 235). In seinem Schluss kommt Rendle zu der Erkenntnis, dass die Eliten 1917 nicht verheimlichen konnten, lediglich eine kleine Minderheit zu sein (S. 241). Diese Einsicht ist alles andere als überraschend, sondern zweifelsohne ein Charakteristikum aller Eliten. Offen bleibt, warum es ihnen in Revolution und Bürgerkrieg nicht gelang, ihre unterschiedlichen ‚Kapitalsorten‘ gewinnmaximierender zu verwenden. So bleiben am Ende der Lektüre Fragen über Fragen.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Matthew Rendle Defenders of the Motherland: The Tsarist Elite in Revolutionary Russia. Oxford, New York: Oxford University Press, 2010. XII. ISBN: 978-0-19-923625-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Rendle_Defenders_of_the_Motherland.html (Datum des Seitenbesuchs)

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