Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 4, S. 10-11

Verfasst von: Lutz Häfner

 

Semion Lyandres: The Fall of Tsarism. Untold Stories of the February 1917 Revolution. Oxford: Oxford University Press, 2013. XXIII, 322 S., 13 Abb., 3 Ktn. ISBN: 978-0-19-923575-9.

Dieses Buch ist ein Triptychon: Es ist erstens und vor allem eine Quellensammlung, herausgegeben von Semion Lyandres, Professor für Osteuropäische Geschichte an der renommierten US-amerikanischen Universität von Notre Dame, einem der profiliertesten Kenner der Revolutionsgeschichte von 1917. Angesichts der zahlreichen in der Vergangenheit vorgelegten Dokumentationen zur Geschichte der Russischen Revolution von 1917 wäre dies indes kaum der Erwähnung wert. Dieses Werk kann aber mit einem Alleinstellungsmerkmal aufwarten: Hier werden fast einhundert Jahre nach den Ereignissen erstmals einem größeren Lesepublikum die Transkripte von zehn Interviews mit unmittelbar Beteiligten der Februarrevolution vorgelegt.

Das Buch ist zum Zweiten ein Forum für die von dem Herausgeber seit fast zwei Jahrzehnten verfochtene These über einen in seiner Bedeutung von der Fachwelt sträflich verkannten Protagonisten der revolutionären Ereignisse in den Tagen des Februars 1917: den Vorsitzenden der IV. Staatsduma Michail Vladimirovič Rodzjanko.

Und drittens schließlich ist das Werk auch eine Detektivgeschichte, von der wahrscheinlich jeder Historiker träumt, die aber nur für die wenigsten in Erfüllung geht. Sie könnte betitelt werden mit: Auf der Suche nach einer verlorengegangenen archivalischen Trouvaille.

Am Anfang dieser Geschichte voller Irrungen und Wirrungen auf der Suche nach der Archivalie stand Ėduard Nikolaevič Burdžalovs 1967 in Moskau publizierte Monographie „Vtoraja russkaja revoljucija: Vosstanie v Petrograde“ [Die zweite Russische Revolution: Der Aufstand in Petrograd]. Als der Osteuropahistoriker Donald J. Raleigh sie zwei Dezennien später ins Amerikanische übertrug, fügte er einer Anmerkung den Satz hinzu, dass Burdžalov der einzige Historiker gewesen sei, der jemals die von dem russisch-sowjetischen Historiker Michail Aleksandrovič Polievktov gesammelten Archivalien mit etwa einem Dutzend im Frühjahr 1917 geführten Interviews zitiert habe.

Polievktov, ein in Petrograd lebender Historiker und Augenzeuge der revolutionären Ereignisse, setzte sich unter dem unmittelbaren Eindruck des brennenden Archivs der zarischen Geheimpolizei, der ochrana, für den Schutz und Erhalt zarischer Archivalien ein. Zudem gehörte er zu den Mitbegründern einer Gesellschaft zum Studium der Russischen Revolution, die bereits Ende April 1917 institutionelle Rückendeckung seitens der Provisorischen Regierung erfuhr. Diese Gesellschaft bat Teilnehmer der Februarereignisse – Arbeiter, Soldaten, Studenten, Parteimitglieder, aber in einer eigenen Sektion auch Personen, die in den Tagen der Revolution im Taurischen Palais, dem Sitz der Staatsduma, gearbeitet hatten – um ihre Erinnerungen.

Wie viele Personen im Verlauf des Frühjahrs 1917 – also zeitnah zu dem Erlebten – insgesamt befragt wurden, ist unbekannt. Der Faszikel umfasst zwölf Interviews und mehrere kürzere Gesprächsaufzeichnungen, von denen insgesamt zehn Interviews Eingang in die vorliegende Quellenedition gefunden haben. Zu den Interviewten zählen so herausragende politische Akteure wie der oktobristische Vorsitzende der Staatsduma Michail Vladimirovič Rodzjanko, der adlige Zemstvo-Aktivist, Generalstabsoffizier und oktobristische Dumaabgeordnete Boris Aleksandrovič Ėngel’gardt, der überaus vermögende Kiever Industrielle, Parlamentarier und permanent amtierende Minister der Provisorischen Regierung Michail Ivanovič Tereščenko, der linke Konstitutionelle Demokrat und stellvertretende Dumavorsitzende Nikolaj Vissarionovič Nekrasov sowie dessen Fraktionskollege Petr Vasil’evič Gerasimov. Ferner sind drei Sozialisten zu nennen: der erste Sozialist, der in Russland ein Ministerportefeuille bekleidete, nämlich der trudovik Aleksandr Fedorovič Kerenskij, der Führer der menschewistischen Dumaabgeordneten Nikolaj Semenovič Čcheidze sowie – in einem sehr ausführlichen Interview – sein Fraktionskollege im Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets und ab Mai 1917 Arbeitsminister der Provisorischen Regierung Matvej Ivanovič Skobelev. Zu den weniger bekannten Interviewten, die auch keine Parlamentarier waren, zählten die beiden Offiziere der Militärkommission der Staatsduma. Diese wirkte als Generalstab der Revolution und half, die Loyalität der auf den Zaren eingeschworenen Truppen zu unterminieren, sie zu neutralisieren oder auf die Seite der Aufständischen zu überführen, eine Konterrevolution des Militärs zu unterbinden und so zum Schutz und Erfolg der Revolution beizutragen. Es handelt sich um den Rechtsanwalt und Hauptmann Aleksandr Aleksandrovič Čikolini sowie den Oberst im Generalstab Lev Stepanovič Tugan-Baranovskij. Der Stellenwert dieser Edition wird auch dadurch unterstrichen, dass von den Interviewten sechs der Nachwelt überhaupt keine weiteren Zeugnisse hinterließen. Lediglich Ėngel’gardt, Kerenskij, Rodzjanko und Skobelev publizierten Erinnerungen, die sich allerdings zum Teil erheblich von den Interviews unterscheiden.

Zu Beginn des archivalischen Goldrausches, den die neuen politischen Verhältnisse des postsowjetischen Russland erlaubten, begann Lyandres im Sommer 1992 mit seiner Suche nach diesen Interviews. Relativ bald wurde er sich der Tatsache bewusst, dass sich dieser Bestand nicht mehr in Russland, sondern wohl in Georgien, der Heimat der Ehefrau Polievktovs, einer Cousine des führenden Men’ševiken Irakli Georgievič Cereteli, befand. Andere Dinge traten dann bei Lyandres in den Vordergrund, doch stellte er seine Bemühungen nie ein. So ist es letztlich einerseits seiner Beharrlichkeit, aber ohne Zweifel auch der Kontingenz zuzuschreiben, dass er im Jahre 2006 die Archivalien zu Gesicht bekam und auch einscannen durfte.

Das Werk besteht aus zwei Teilen mit insgesamt 13 Kapiteln. Der erste behandelt die Entstehung der Interviews und die Geschichte der Suche nach ihnen. Der zweite besteht aus den zehn Interviews und das letzte Kapitel ist ihrer Interpretation vorbehalten. Hier präsentiert Lyandres seine sich von der historiographischen Mehrheitsmeinung über die Russische Revolution von 1917 abhebende Sicht der Dinge. Ähnlich wie sein russischer Kollege Sergej Viktorovič Kulikov, der das Ende des Ancien régime auf eine „Verschwörung“ von Oktobristen, Konstitutionellen Demokraten und Progressisten innerhalb der Kriegsindustriekomitees zurückführt, vertritt auch Lyandres die Auffassung, dass Rodzjanko und der Vorsitzende den Zentralen Kriegsindustriekomitees und oktobristische Fraktionschef in der III. Staatsduma Aleksandr Ivanovič Gučkov die eigentlich treibenden Kräfte der Februarrevolution 1917 gewesen seien. Ihre politischen Schritte hätten oft Maßnahmen der Sozialisten vorweggenommen bzw. diese und auch den Petrograder Sowjet in deren Handeln nachhaltig beeinflusst. In der Tat ist der Argumentation Lyandres’ die Plausibilität nicht abzusprechen. Aber selbst wenn Ro­dzjan­ko der zentrale Akteur in den Februarereignissen gewesen sein sollte, änderte dies nichts an der Weichenstellung, die bereits im Vorfeld der Revolution von 1905 erfolgt war: Nicht ein „entweder – oder“, sondern ein „sowohl als auch“ bestimmte die politische Agenda im ausgehenden Zarenreich. Sie bestand in einer Kooperation liberaler und sozialistischer Kräfte, die durch parlamentarische Zusammenarbeit und gemeinsames Wirken in den Kriegsindustriekomitees während des Ersten Weltkriegs gepflegt und intensiviert wurde. Entscheidend für den Erfolg der Februarrevolution dürften daher die Synergieeffekte gewesen, die sich aus einer konzertierten Aktion aller Beteiligten ergaben, der Spontaneität einer elementaren Massenbewegung, der Organisation militärischer Kräfte durch Gučkov und anderer sowie der Position des Dumavorsitzenden Rodzjankos, der dem Zaren schon vor den Februarereignissen seine Loyalität aufgekündigt hatte und ihn zum Wohle Russlands zur Disposition stellte.

Die ins Amerikanische übertragenen zehn Interviews umfassen mehr als 200 Seiten. Sie sind jeweils mit einer kurzen biographischen Einführung versehen und akribisch annotiert. Die Fußnoten sind materialgesättigt. Aus ihnen spricht die stupende Belesenheit Lyandres. Eine Zeittafel, drei Karten, Photographien der Augenzeugen und ein detailliertes Register runden diese nicht nur vorzüglich kommentierte, sondern in wirklich jeder Hinsicht beispielhafte Edition ab. Lyandres und seinen Mitarbeitern ist ungeteiltes Lob zu zollen.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Semion Lyandres: The Fall of Tsarism. Untold Stories of the February 1917 Revolution. Oxford: Oxford University Press, 2013. XXIII, 322 S., 13 Abb., 3 Ktn. ISBN: 978-0-19-923575-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Lyandres_The_Fall_of_Tsarism.html (Datum des Seitenbesuchs)

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