Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 330-332

Verfasst von: Lutz Häfner

 

Friedrich Lenger: Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850. München: Beck, 2013. 757 S., 121 Abb. = Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung. ISBN: 978-3-406-65199-1.

Früher war St. Petersburg eine Stadt der Ministerialverwaltung, der Beamten. Jetzt ist sie mehr und mehr zu einer europäischen Stadt geworden. Vielleicht ist vieles noch wie eine Karikatur, wie eine kindliche Nachahmung, aber Fakt ist, dass der allerjüngste europäische ‚dernier cri schon zu sehen ist.“ Unter seinem Pseudonym A. Zorin beschrieb der bekannte Petersburger Journalist Aleksej Gastev im Oktober 1913 in dem der Russischen Sozialdemokratie nahestehenden Journal Žizn’ dlja vsech den beschleunigten Wandel der Metropole. St. Petersburg weise bereits, wie er meinte, wesentliche Insignien der europäischen Moderne wie Hochhäuser, Straßen-, Eisen- und Vorortbahnen auf, diskutiere sogar schon die Pläne einer Untergrundbahn.

Anders als es der Titel verheißt, ist die vorliegende Studie keineswegs ausschließlich den Metropolen Europas gewidmet. Angesichts der Diversität der europäischen Städtelandschaft nähert sich der Verfasser mit einem der Forschungsproblematik durchaus angemessenen Pragmatismus, grenzt nicht durch enge Definitionen oder Parameter seinen Gegenstand ein, sondern bewahrt sich einen offenen Blick, mit dem er Städte aller Größe von den Metropolen über die Groß- bis hin zu den Kleinstädten ins Visier nimmt.

Mit Rekurs auf die Theorie der Moderne, wie sie Andreas Reckwitz und Peter Wagner in jüngerer Vergangenheit entwickelt haben, rückt der Gießener Historiker Friedrich Lenger die europäische Stadt in den vergangenen 150 Jahren in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Besonders zu würdigen ist, dass sich Lengers tour d’horizon der europäischen Metropolen nicht in der Behandlung Londons, Paris’, Berlins und Wiens erschöpft. Die Städte Spaniens und Italiens werden ebenso in die Darstellung mit einbezogen, wie die ost- und südosteuropäischen Städte. Lenger verfolgt einen gesamteuropäischen Anspruch, der aber, ohne genauere Grenzen zu ziehen, die asiatischen Teile des Zarenreichs, der Sowjetunion bzw. der Russländischen Föderation ausschließt (S. 15). Dass Lenger angesichts der europäischen Gesamtschau an die Grenzen seiner Sprachkompetenz stieß und die osteuropäische Städtelandschaft ausschließlich auf der Basis der westlichen Literatur abhandelt, tut dem Ertrag kaum Abbruch: Im Gegenteil: seine konzeptionelle Offenheit für die europäische Mitte, die, wie es Karl Schlögel suggestiv formulierte, ostwärts liege, bringt dem Leser einen deutlichen Erkenntnisgewinn.

Die vorliegende Synthese ist eine interdisziplinär argumentierende Sozial- und Kulturgeschichte der europäischen Stadt, die wenigstens zwei Ziele verfolgt. Sie formuliert einerseits generalisierende Aussagen über die europäischen Städte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Anderseits widmet sich der Autor intensiv drei Bereichen: erstens der zentralörtlichen Bedeutung der Städte einschließlich ihrer sozialen, ethnischen und kulturellen Zusammensetzung, zweitens der städtischen Öffentlichkeit und drittens innerstädtischen Gewaltphänomenen einschließlich ihrer Verarbeitung in Film, Literatur und bildender Kunst. Diese Vertiefung setzt eigene Akzente.

Lenger gliedert sein Werk chronologisch in drei Blöcke: Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, zweitens die Zeit der Weltkriege einschließlich der unmittelbaren Phase des Wiederaufbaus bis zum Ende der vierziger Jahre und schließlich drittens Europas Städte seit den 1950er Jahren. Die Gliederung ist etwas kopflastig: Auf den ersten Zeitabschnitt entfällt die Hälfte der Darstellung, auf das gute letzte halbe Jahrhundert noch etwa ein Fünftel. Lenger rechtfertigt seine Vorgehensweise mit guten Gründen wie beispielsweise dem vorzüglichen Forschungsstand über die europäischen Städte vor dem Ersten Weltkrieg. Ferner erörtert er im ersten Teil manche Aspekte wie die städtische Selbstverwaltung ausführlicher als in den beiden folgenden. Und schließlich bedient sich der Autor eines Kunstgriffes. Am Beispiel der beiden westeuropäischen Kapitalen London und Paris – die er als „Schrittmacher der Moderne“ tituliert (S. 27) – führt er zur Mitte des 19. Jahrhunderts exemplarisch den radikalen städtebaulichen, hygienischen und infrastrukturellen Wandel vor Augen, der in den folgenden Jahrzehnten als gesamteuropäisches Phänomen zum Durchbruch kommen sollte.

Gelungen verzahnt der Verfasser struktur-, politik- und kulturgeschichtliche Perspektiven. Die kommunale Selbstverwaltung wie die Interventionsbereitschaft des Zentralstaats, migrations- und sozialstatistische Aspekte, die überlebenswichtige kommunale Daseinsvorsorge mit ihrer ganzen Bandbreite von der Trinkwasserversorgung über die Kanalisation bis hin zur Städteassanierung, die städtische Öffentlichkeit, Kultur- und Freizeitangebote – keinen Bereich spart der Verfasser aus.

Der bedeutsamen Wohnungsfrage widmet Lenger breiten Raum (S. 115–131). Zu loben ist seine methodische Sensibilität, die verdeutlicht, wie schwierig aufgrund abweichender statistischer Parameter und Kriterien nicht nur innerdeutsche, sondern erst recht europäische Vergleiche sind (S. 119–120, 124). Der Osteuropahistoriker wird im Kontext städtischen Wohnens eine vergleichende Perspektive auf die dača vermissen. Zugegeben: Sie ist anders als der Kleingarten wenigstens in deutschen Großstädten kein innerstädtisches Phänomen, gleichwohl hat sie – zumeist saisonal – über einen mehr als einhundertjährigen Zeitraum ganz wesentlich die Hygiene, Kultur und Mobilität der russländischen (Groß)Städter geprägt.

Der Facettenreichtum der Studie steht partiell einer tiefergreifenden Erörterung entgegen. So bemerkt der Verfasser mit Recht zum Abschluss seines siebten Kapitels Kampf um den städtischen Raum, das sich mit geschlechterbedingten Aneignungen städtischer Räume, sozialen und ethnischen Konflikten einschließlich des hooliganism, Demonstrationen, Streiks, Pogromen und Revolutionen beschäftigt, dass dieser Überblick keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben könne. In der Tat ist es jenseits der unbestreitbaren Tatsache, dass sich diese Phänomene in Städten abspielten, schwierig, den roten Faden des präsentierten Potpourris zu finden, wenn ihre Einbindung in die jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse unterbleibt. Handelte es sich wirklich um einen Kampf um den städtischen Raum, wenn Bergarbeiter in einer Stadt demonstrieren? Fungierte die Stadt als Versammlungsort nicht nur als Bühne, war sie also vielleicht bloß Mittel zum Zweck? Worin besteht jenseits der letalen Folgen die Gemeinsamkeit zwischen den Attentaten der Narodnaja Volja auf Zar Alexander II. 1881 in St. Petersburg bzw. der Sozialrevolutionäre auf Großfürst Sergej Aleksandrovič 1905 in Moskau und dem anarchistischen Bombenanschlag auf das Pariser Café Terminus 1894? Aufmerksamkeit zu erzielen, war sicherlich ein zentrales Anliegen der „Propaganda der Tat“, doch inwieweit diese Absicht über die eigentliche Bühne hinaus medial auch erreicht wurde, darüber schweigt sich die Darstellung aus, obwohl Lenger darauf verweist, dass Städte die „Produktions- und medialen Distributionsorte der Deutungsmuster“ darstellten (S. 272).

Der weitgehende Verzicht auf Tabellen, Schaubilder, Graphiken ist zu bedauern. Sie hätten die ein oder andere impressionistische Beschreibung, die sich ohne intimere Kenntnis der jeweiligen städtischen Topographie dem unbedarften Leser nicht unbedingt erschließt, sinnvoll ergänzt und zu einem besseren Verständnis beigetragen. Zu bedauern ist auch, dass die Studie abrupt endet. Eine Zusammenfassung fehlt. Zu kritisieren ist zudem, dass slawische Städtenamen mal wissenschaftlich, mal ‚vulgär‘ unter Verzicht auf diakritische Zeichen transliteriert worden sind. Dabei bleibt unklar, warum der Verfasser für die Zeit vor 1917 mal von Charkow, mal von Charkiw spricht (S. 73, 265) – aber das sind Quisquilien.

Diese geringfügigen Einwände werden durch die zahlreichen Vorzüge der Synthese nachgerade erdrückt. Zu loben ist die ebenso präzise wie verständliche Wissenschaftsprosa Lengers. Die Literaturbasis ist stupend. Die klare und detaillierte Gliederung erlaubt einen schnellen Zugriff. Wer sich über das Panorama der europäischen Stadt in ihrer Bandbreite und Ambivalenz seit dem 19. Jahrhundert informieren möchte, sollte mit dieser vorzüglichen Synthese beginnen. Die mit zahlreichen farbigen Abbildungen versehene Ausstattung des Bandes ist ebenfalls positiv hervorzuheben. Für wenige Darstellungen dürfte gelten, dass der Leser nach 550 Seiten Text mit Bedauern zur Kenntnis nehmen muss, dass die Lektüre beendet ist. Der Rezensent hätte gerne weiter gelesen und noch mehr erfahren.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Friedrich Lenger: Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850. München: Beck, 2013. 757 S., 121 Abb. = Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung. ISBN: 978-3-406-65199-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Lenger_Metropolen_der_Moderne.html (Datum des Seitenbesuchs)

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