Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Lutz Häfner

 

Hannes Leidinger, Verena Moritz (Hrsg.) In russischer Gefangenschaft. Erlebnisse ös­terreichischer Soldaten im Ersten Weltkrieg. Böhlau Verlag Wien 2008. 292 S. = Damit es nicht verlorengeht ..., 56. ISBN: 978-3-205-77283-5.

„Man erlitt reichliche Unbequemlichkeiten, wegen deren sich die Russen fortgesetzt bei den gefangenen Offizieren entschuldigten, etwa wenn man zu Fuß marschieren musste, weil es keine Wagen gab, oder in den Lastwaggons transportiert wurde, statt zweiter Klasse.“ Mit diesen Worten schilderte Heimito von Doderer in seinem kurz vor seinem Tode begonnenen und daher Fragment gebliebenen Roman „Der Grenzwald“ den Beginn der Kriegsgefangenschaft seines Protagonisten in Russland. Die Kriegsgefangenschaft kannte der österreichische Romancier aus eigener, gut vier Jahrzehnte zuvor gewonnener Anschauung.

Im Verlauf des Ersten Weltkriegs sind ca. 2,1 Mio. Soldaten, darunter gut 54.000 Offiziere, der k.u.k. Streitkräfte in russische Gefangenschaft geraten. Etwa 200.000 waren Deutschösterreicher. Ihre Er­lebnisse haben nicht wenige literarisch verarbeitet, viele Berichte erschienen insbesondere in den zwanziger Jahren. Zehn deutschsprachige Selbstzeugnisse, die der über 3.000 Lebensberichte umfassenden „Dokumentation lebensgeschichtlicher Auf­zeichnungen“ am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien entnommen sind, haben Eingang in die vorliegende Quellenedition gefunden. Sieben der Texte stammen von niederen Dienstgraden, drei wurden von Offizieren verfasst.

Die Erlebnisberichte geben Auskunft nicht nur über Eigen- und Fremdwahrnehmungen, (nationale) Stereotype sowie die Alltagsgeschichte Kriegsgefangener. Sie verdeutlichen darüber hinaus, in welchem Maße sich das Schicksal der Kriegsgefangenen an der Ostfront im Ersten Weltkrieg von dem im Zweiten Weltkrieg unterschied. Die Mortalität in der russischen Kriegsgefangenschaft war mit 17,7 % deutlich höher als beispielsweise die der Kriegsgefangenen im Deutschen Reich mit 3,5 %, in Großbritannien mit 4 %, in Frankreich mit 5,3 % oder in Österreich-Ungarn mit 6,5 %, aber geringer als in Rumänien oder Serbien mit 23 bzw. 25 %. Im Zweiten Weltkrieg hingegen betrug die Überlebenschance russischer Kriegsgefangener im Dritten Reich etwa 50 %, während von den deutschen Kriegsgefangenen in der UdSSR etwa ein Drittel starb. Der Weltanschauungskrieg konterkarierte die im Vergleich mit dem Ersten Weltkrieg verbesserten völkerrechtlichen Grundlagen durch die Genfer „Konvention über die Behandlung von Kriegsgefangenen“ aus dem Jahre 1929. Die Regelungen der Präambel der Haager Landkriegsordnung aus dem Jahre 1907 waren rudimentär. Gleichwohl ermöglichten Inspektionsreisen von Beobachtern aus neutralen Ländern zu den etwa 900 Gefangenenlagern, Hilfslieferungen aus den jeweiligen Heimatländern sowie das Engagement verschiedenster Akteure – z.B. karitativer Organisationen oder auch des Internationalen Roten Kreuzes –, das Los der Kriegsgefangenen im Allgemeinen erträglich zu gestalten.

Die Berichte verdeutlichen aber auch, wie schwierig es ist, generalisierende Aussagen aufgrund vermeintlich kollektiver Erfahrungen zu treffen; denn die individuellen Erfahrungen unterschieden sich aufgrund verschiedenster, sich im Laufe der Zeit verändernder Parameter beträchtlich. Wesentlich für die in der Gefangenschaft gemachten Erfahrungen war der Dienstgrad. So wurden Offiziere besser untergebracht, sie unterlagen keiner Arbeitspflicht und erhielten sogar noch ein monatliches Entgelt, das ihnen bis in den Winter 1916/17 hinein – als sich Warenknappheit und Inflation zunehmend bemerkbar machten – ein relativ sorgenfreies Leben ermöglichte, weil sie damit Lebensmittel und anderes mehr erwerben, aber auch Dienstleistungen in Anspruch nehmen konnten (S. 227). Mit der bolschewistischen Machtübernahme verschlechterte sich allerdings ihre Lage als Angehörige der alten Eliten. Die Offiziere behielten ihr hierarchisches Denken und ihren (militärischen) Ehrenkodex – bis hin zum Duell – auch unter den Gegebenheiten der Kriegsgefangenschaft bei. Für die Mannschaften galt dies alles nicht. Deren Schilderungen thematisieren alltägliche Probleme wie ihre Unterbringung. Diese war insbesondere in den ersten beiden Kriegsjahren unzureichend, weil binnen kurzer Zeit Hunderttausende Soldaten in Kriegsgefangenschaft gerieten und weder die Behörden noch die Infrastruktur des Zarenreichs auf solche Massen vorbereitet waren. Die mangelnde Hygiene, die partiell eine Folge wiederum der katastrophalen Unterkünfte war, Krankheit, Hunger oder Arbeitseinsatz wurden ebenso oft behandelt (S. 51–55, 57–61, 73, 81, 84–89, 106–110, 129–130, 140–141, 158–164). Im Übrigen unterlagen die Mannschaften – was allerdings kein Alleinstellungsmerkmal des Zarenreichs war – seit 1915 der Arbeitspflicht. Was als Ausbeutung gedeutet werden kann, weil die Kriegsgefangenen nicht oder nicht angemessen bezahlt wurden, bedeutete zugleich auch, dass sie die oft über­füllten Lager verlassen und sich zum Teil sogar der Bewachung entziehen konnten (S. 116). Da sie in unterschiedlichsten Branchen und Gebieten zum Einsatz kamen, könnte sogar die These formuliert werden, sie hätten ein Leben als „arbeitende Migranten“ gefristet (S. 66–67, 98, 143). Viele fanden in der Landwirtschaft, wo sie etwa 50 % der zur zarischen Armee eingezogenen Landarbeiter ersetzten, aber auch in Fabriken, im Berg- oder Straßen- bzw. Verkehrswegebau Verwendung. Im Uralgebiet und im Donbass machten Kriegsgefangene bis zu 30 % der Arbeiterschaft aus. Dadurch gerieten sie in engen Kontakt mit der Bevölkerung. Positive Eindrücke scheinen die Regel gewesen zu sein, und sogar Heiraten bildeten keineswegs eine Ausnahme (S. 55–56, 61, 69–71, 97, 109, 135, 142–143, 174–175). Im Berufsalltag waren sie aber, da ihre Gegenwart zum Lohnverfall beitragen konnte, nicht immer wohl gelitten. Dabei erwiesen sich die Kriegsgefangenen keineswegs als Streikbrecher, sondern sie beteiligten sich durchaus an Arbeitskämpfen, um ökonomischen Forderungen, wie z.B. nach einer besseren Bezahlung, Nachdruck zu verleihen. Diese Solidarität veranlasste die Provisorische Regierung im Sommer 1917, die Kriegsgefangenen mit rigiden Sanktionen zu disziplinieren.

Die beiden Herausgeber, seit Jahren durch zahlreiche Beiträge ausgewiesene Spezialisten, haben die Quellenedition mit einem instruktiven Vor- und Nachwort versehen. Ein Verzeichnis der wichtigsten weiterführenden Literatur, ein Glossar und ein Ortsregister runden die vorliegende Edition ab. Gleichwohl vermögen aber die abgedruckten Berichte Neues nicht zu vermitteln. Insofern stellt sich die Frage des cui bono; aber dies ist Verlagsrisiko.

Lutz Häfner, Bielefeld/Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Hannes Leidinger, Verena Moritz (Hrsg.) In russischer Gefangenschaft. Erlebnisse österreichischer Soldaten im Ersten Weltkrieg. Böhlau Verlag Wien 2008. 292 S. = Damit es nicht verlorengeht ..., 56. ISBN: 978-3-205-77283-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Leidinger_In_russischer_Gefangenschaft.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2011 by Osteuropa-Institut Regensburg and Lutz Häfner. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de