Barbara Falk Sowjetische Städte in der Hungersnot 1932/33: Staatliche Ernährungspolitik und städtisches Arbeitsleben. Böhlau Verlag Weimar, Köln, Wien 2005. VIII, 445 S., Tab. = Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 38.

Barbara Falks Dissertation stellt eine empirisch überaus gründlich recherchierte Forschungsleistung dar. Die Arbeit basiert auf einer bemerkenswerten Materialfülle. Zu nennen wären hier sowohl die einschlägigen hauptstädtischen Archive, darunter sogar das des Geheimdienstes FSB, als auch das Char’kover Gebietsarchiv. Ergänzt werden diese u.a. durch Memoiren sowie westliche Presse- und Botschafterberichte. Dieser Vorzug einer breiten Quellenbasis fällt mit einem wesentlichen Kritikpunkt zusammen; denn gemessen an dem immensen Arbeitsaufwand wirkt der Ertrag der Studie wenig konturiert: Keine bahnbrechend neue These strukturiert die Darstellung, vielmehr zementiert sie bisher schon bekannte Positionen.

Falk definiert in ihrer Studie weder Hunger bzw. Hungertod noch verweist sie auf Mauricio Borreros „Hungry Moscow“ betitelte Studie über die bolschewistische Versorgungspolitik der Hauptstadt in den Jahren von Revolution und Bürgerkrieg. Borrero versteht unter Hunger ein multiples Krisensyndrom von Subsistenz, Überlebensstrategien und Herrschaft, und deutet Hungertod begrifflich weniger als eine Konsequenz unzureichender Lebensmittelproduktion, sondern vielmehr als eine Folge der Unfähigkeit einer Regierung, die Distribution von Nahrungsmitteln zu organisieren. Zu ähnlichen Resultaten gelangt auch Falk, indem sie argumentiert, dass es dem Regime zu keinem Zeitpunkt gelungen sei, selbst die Versorgung der Bevölkerung, die in den Genuss des Rationierungssystems kam, planmäßig zu gewährleisten. Falk deutet das Versorgungsproblem nicht nur als einen permanenten Notstand. In der Krisenbewältigung lag zugleich auch eine Bewährungsprobe für die Sowjetunion. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung, insbesondere der Arbeiterschaft, mit der unzureichenden Lebensmittelversorgung war ausgeprägt und drohte, zu einem ernsten Legitimationsproblem für Staat und Partei zu werden. Vor diesem Hintergrund formuliert Falk die These, dass das System zwar seinen totalen Zugriff auf die Bevölkerung versucht habe durchzusetzen, seine Steuerungsmechanismen jedoch versagt hätten und die Folgen seines Handelns nicht zu antizipieren gewesen seien. Die Konsequenz war keine proaktive, sondern vielmehr eine situationsbedingte und reaktive Politik (S. 10).

Drei Ebenen strukturieren die Untersuchung der staatlichen Ernährungspolitik vor dem Hintergrund der Hungerkrise. Zum einen wird Rationierung als ein planerisches und ideologisches Konzept aufgefasst, zum zweiten gilt das Interesse der Umsetzungspraxis der Rationierung und drittens werden die Folgen von Versorgungskrise, Hunger und staatlicher Ernährungspolitik für den Alltag der Bevölkerung thematisiert. Im Mittelpunkt der Monographie steht die Lebensmittelrationierung, die in den Jahren zwischen 1931 und 1933 auch Teile der eigentlich Getreideüberschuss produzierenden landwirtschaftlichen Regionen betraf, nämlich insbesondere die Ukraine, aber auch Regionen des Wolgagebiets – wo mit Ėngels und Saratov die Städte mit der 1933 unionsweit höchsten Mortalitätsquote lagen (S. 354) – und Teile des Kaukasusvorlandes. Erst die deutlich bessere Ernte von 1934 ermöglichte es der sowjetischen Führung, von der Brotrationierung wieder Abstand zu nehmen.

Die Untersuchung besteht aus zwei Teilen mit je zwei Kapiteln. Die beiden allgemein einführenden Kapitel sind chronologisch aufgebaut. Das erste umfasst den Zeitraum von 1927 bis 1931 und behandelt die Genese des Rationierungssystems in der Spätphase der NĖP und in der beginnenden Zwangskollektivierung. Bezugskarten für Brot und sukzessive auch für andere Grundnahrungsmittel wurden aufgrund sich häufender Versorgungsengpässe seit Ende 1928 eingeführt und sollten ein halbes Dutzend Jahre den Konsumalltag weiter Teile der Bevölkerung bestimmen. In ihrem ersten Kapitel über die „Genese des Rationierungssystems“ folgt Falk im Wesentlichen der Argumentation der durch zahlreiche Studien zur Versorgungs- und Wirtschaftspolitik im Stalinismus ausgewiesenen Moskauer Historikerin Elena Osokina. Mit dem Rationierungssystem gelang es dem Sowjetstaat, Teile der Bevölkerung auf Kosten anderer zu privilegieren. Diese Disparitäten waren fester Bestandteil des hierarchisch aufgebauten Rationierungssystems, das bestimmte Regionen und Personengruppen bevorzugte: die Industriezentren, die Schwerindustrie, die Parteielite, die Armee und den Geheimdienst auf Kosten von ca. 80 Prozent der Gesamtbevölkerung, nämlich der Bauernschaft, die überhaupt nicht in den Genuss des staatlichen Versorgungssystems kam. Aufgrund der Mangelkultur entwickelte sich seit den dreißiger Jahren auf der Basis informeller Patronagebeziehungen eine neue „Ständegesellschaft“, in der hierarchisch abgestuft ein privilegierter Zugang zu raren Gütern des „geschlossenen Verteilungssystems“ und zu nichtmonetären Gratifikationen wie Dienstwagen, Wohnraum, Einkaufsmöglichkeiten oder Auslandsreisen vermittelt wurde. Die Zugangsberechtigung zu raren Gütern waren nicht nur ein Statussymbol, sondern konnte überlebensnotwendig sein (S. 36–39, 186, 287–293).

Das mit hundert Seiten Umfang mehr als doppelt so lange zweite Kapitel schildert die sich aufgrund deutlich sinkender Ernteerträge verschlechternde Versorgungssituation, thematisiert das Grundmuster staatlicher Getreideversorgung überhaupt und erörtert die Versuche des staatlichen Managements der Hungerkrise. Darüber hinaus behandelt es die unterschiedlichen Perspektiven auf den Hunger: zum einen aus der Sicht der Betroffenen, zum zweiten im Spiegel amtlicher Dokumente und zum dritten auf der Basis der Konsum- und Mortalitätsstatistiken.

Der zweite Teil der Untersuchung ist eine Fallstudie über die Städte des Gebiets Char’kov einschließlich seiner Metropole, der damaligen Hauptstadt der Sowjetukraine. Hier geht es um die karge alltägliche Getreideversorgung der lokalen Bevölkerung aus zentralen und regionalen Quellen, um öffentliche Speisung und individuelle Maßnahmen der Lebensmittelbeschaffung wie z.B. den oft kriminalisierten „Basarhandel“ oder den Schwarzmarkt, der mit seinen horrenden Preisen dennoch häufig die einzige Möglichkeit bot, wenigstens das blanke Überleben zu sichern (S. 227–228, 366).

Insgesamt fand aber nur etwa die Hälfte der städtischen Bewohner Aufnahme in das Rationierungs- bzw. Versorgungssystem – und von diesen kam keineswegs die Masse in den Genuss der höchsten Bezugsquoten. Das staatliche Versorgungsnetz war grobmaschig, und zahlreiche „zweitrangige“ Städte und Bevölkerungssegmente fielen aus der Förderung ganz heraus (S. 305–306, 325). Gerade die radikale Reduktion der Zahl der Rationsberechtigten – u.a. auch dadurch, dass ganze Regionen von der Versorgung ausgeschlossen wurden – avancierte auf dem Höhepunkt der Krise 1932/33 zum Kernelement des Krisenmanagements.

In der Diskussion über die jüngst nicht mehr nur in der exilukrainischen und der konservativen US-amerikanischen Forschung um James Mace und Robert Conquest, sondern nun auch in der Ukraine verstärkt vertretene These des holodomor, des von Stalin und den Moskauer bol’ševiki bewusst herbeigeführten (Hunger-) Genozids am ukrainischen Volk, schließt sich die Verfasserin auf der Basis ihres umfangreichen Quellenmaterials der u.a. auch von Stephan Merl vertretenen Position an, dass sich dafür keine empirischen Belege anführen ließen. Die Kürzungen der städtischen Getreideversorgung von 1930 bis 1934 seien – so die Argumentation Falks – ebensowenig wie die Repression gegenüber der ländlichen Bevölkerung ein Alleinstellungsmerkmal der Ukraine gewesen. Auch sei nicht die Ethnizität Schlüssel der Lebensmittelzuweisungen gewesen (S. 309–310); vielmehr seien der Industrialisierungsgrad, die Größe einer Stadt sowie die landwirtschaftlichen Produktionsbedingungen des Umlands der Maßstab dafür gewesen. Mit den von der Regierung ergriffenen Maßnahmen konnten selbst in den Industriezentren gravierende Engpässe nicht verhindert werden; in den zweitrangigen Städten nahm die Führung massiven Hunger – ein Begriff, der in der Sprache der Behörden oft vermieden wurde (S. 113) – bewusst in Kauf.

Vielleicht hätte der Darstellung streckenweise weniger narrative Beschreibung und mehr Analyse gut getan. Doch diese Kritik kann einer insgesamt bemerkenswerten Forschungsleistung keinen Abbruch tun.

Lutz Häfner, Bielefeld/Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Barbara Falk: Sowjetische Städte in der Hungersnot 1932/33: Staatliche Ernährungspolitik und städtisches Arbeitsleben. Böhlau Verlag Weimar, Köln, Wien 2005. = Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 38. ISBN: 3-412-10105-2, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Falk_Sowjetische_Staedte.html (Datum des Seitenbesuchs)