Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 450-453

Verfasst von: Lutz Häfner

 

Catherine Evtuhov: Portrait of a Russian Province. Economy, Society, and Civilization in Nineteenth-Century Nizhnii Novgorod. Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 2011. XV, 320 S., 6 Taf., 19 Abb., 7 Tab. ISBN: 978-0-8229-6171-0.

Wer zur Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen“. In gewisser Weise hat Catherine Evtuhov, durch zahlreiche Veröffentlichungen ausgewiesene Osteuropahistorikerin an der renommierten Georgetown University, Washington, DC, sich diese chinesische Weisheit zu eigen gemacht, als sie an ihrem Porträt des Gouvernements Nižnij Novgorod im 19. Jahrhundert arbeitete. Ihr Anliegen war, gegen herrschende Lehrmeinungen der Zunft anzuschreiben und manch liebgewordene Positionen zu hinterfragen. Dies erklärte sie in einem Interview, nachdem ihr im November 2012 die Association for Slavic, East European and Eurasian Studies (ASEEES) den Wayne-S.-Vucinich-Preis für die beste Studie des Jahres zur osteuropäischen Geschichte verliehen hatte (http://www.georgetown.edu/news/catherine-evtuhov-wins-book-prize.html; 13.08.2015).

Wissenschaftlicher Fortschritt lebt von der Kontroverse, aber die Kontrastfolien, an denen sich der Historiker ‚abarbeitet‘, sollten einen Gegenwartsbezug haben und nicht ‚ollen Kamellen‘ gleichen. Die Verfasserin arbeitet sich jedenfalls an überwiegend bereits überholten Konzepten ab. Dazu zählen unter anderem die Frage nach einheitlichen Entwicklungswegen in die Moderne, nach der Rückständigkeit, ihren Vorzügen und Nachteilen. Diese Modelle gelten seit dem cultural turn oder Shmuel Eisenstadts zur Jahrtausendwende publizierten Multiple Modernities in der Geschichtswissenschaft als überholt (S. 81).

Die Monographie ist einer induktiven Methode verpflichtet (S. 5). Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses steht der „provincial’nyj dejatel’“. Auch wenn die Autorin es versäumt darauf hinzuweisen, dass es sich um einen Quellenbegriff handelt, liegt der Fokus auf den lokalen Protagonisten, deren Ziel es war, „Provinz“ zu konzeptualisieren, zu beschreiben, zu befördern und damit Gemeinschaft zu stiften, ein Zusammengehörigkeitsgefühl hervorzurufen (S. 15). Evtuhov formuliert die These, dass die historische Forschung Gouvernements weitgehend vernachlässigt und damit das Potential eines „provinziellen“ Zugriffs auf Strukturdimensionen wie Wirtschaft, Gesellschaft, Herrschaft und Kultur nicht genutzt habe (S. 248).

Die dem 19. Jahrhundert gewidmete Studie – Zäsuren werden nicht benannt – ist zweigeteilt. Die ersten sechs Kapitel tragen Evtuhovs konzeptionellem Zugriff einer „organischen Provinz“ Rechnung. Sie versucht dabei stets, ihre Region eingebettet in einen permanenten Austausch mit anderen Gebieten oder dem Zentrum zu behandeln. Nach hinführenden Worten über die Vorstellungen von russischen Provinzen im Allgemeinen und von Nižnij Novgorod als einem der bedeutendsten Zentren russischen Handels im Besonderen, erörtert das ebenso faszinierende wie gelungene zweite Kapitel ökologische Aspekte des provinziellen Lebens. Hier thematisiert die Verfasserin am Beispiel eines großen Wissenschaftlers, des Geologen V. V. Dokučaev, das Zusammenspiel von Bodenbeschaffenheit, Landwirtschaft, Forsten, Klima und Bodenerosion. Das dritte Kapitel ist der städtischen Topographie gewidmet. Fragen und Probleme der Bevölkerungsentwicklung, der Urbanisierung, der Hygiene werden ebenso erörtert wie die städtische Architektur und Kultur. Die Präsentation erfolgt allerdings nicht systematisch und umfasst nicht alle Städte des Gouvernements, sondern bleibt eklektisch und ‚zufällig‘. Die beiden folgenden Kapitel behandeln die lokale Ökonomie: Das erste steckt den Rahmen ab, hebt auf die enge Verbindung von Stadt und umgebendem Land ab und behandelt Aspekte wie den Facettenreichtum der städtischen Wirtschafts­struktur einschließlich der Proto- und der kustar’-Industrie, aber auch der Arbeitsmigration. Das zweite hingegen ist eine vertiefende Fallstudie des Handwerks im Südosten des Gouvernements. Statistiken und eine Vergleiche erlaubende Aufbereitung des Materials gewährt Evtuhovs Darstellung allerdings nicht. Die Detailfülle ist stupend, doch diese Mosaiksteine ergeben kein kohärentes Bild. Die bäuerliche Sozialstruktur bleibt opak. Und dort, wo Evtuhov Preisangaben macht, werden sie nicht historisiert, so dass auch keine Rückschlüsse auf eine etwaige Entwicklung möglich sind (S. 86 ff.). Das sechste Kapitel versucht, den sozialen Raum zu erfassen. Evtuhov greift ihre einleitend geäußerte Kritik an der Forschung auf und moniert die Gewohnheit, „Gesellschaft“ sogleich als ein Ensemble soziologischer Kategorien wie Bourgeoisie, Arbeiterklasse etc. zu verstehen. Sie plädiert dafür, das Soziale („the social“, S. 100) als „fluider“ und viel weniger strukturiert zu begreifen, als eine Vielzahl von Kreisen, Netzwerken und auch zufälligen Berührungspunkten, die sich für die Individuen ergaben. Die Überlegungen klingen plausibel, sieht man einmal davon ab, dass die zeitgenössische Gesellschaft nicht egalitär, sondern eben durch Traditionen, Devotionsformen, Courtoisie und auch Verkehrskreise doch ‚vorstrukturiert‘ war. Die Existenz der feinen Unterschiede, man denke an Studien Jurij Lotmans und Pierre Bourdieus, lässt sich auch für die Provinz nicht negieren. Schon die Anrede, wie beispielsweise „Euer Wohlgeboren“, sagte etwas über die ständische Hierarchie aus. Und diese gesellschaftlichen Gradationen galten selbst für den alltäglichen Einkauf. Der zweite Einwand gilt der Operationalisierbarkeit. Evtuhov setzt ihren Vorschlag nicht um. Sie präsentiert Sozialstrukturdaten der einzelnen Städte, ergänzt durch detaillierte Angaben über die Handwerkerschaft in der Gouvenementskapitale sowie der Kreisstadt Arzamas im Jahre 1865 (S. 108–111). Hierbei handelt es sich jedoch um eine Momentaufnahme. Wir erfahren nichts über die weitere Entwicklung der Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten. Auch die von Evtuhov präsentierten Photographien und vier Kurzbiographien bieten zwar weitere Facetten, runden aber das Bild nicht ab. Mit den biographischen Exkursen über das Leben dreier Männer und einer Frau, die eine Karriere als Journalistin machte, will Evtuhov verdeutlichen, dass die Aussagekraft ständischer Kriterien in der Reformära immer geringer wurde, weil sie nicht mit Status, Beruf und Intellekt korrespondierten. Städtische Gesellschaft sei multipel bzw. polyvalent geworden. Die Erkenntnis beträchtlicher sozialer Mobilität im späten Zarenreich dürfte aber niemanden mehr überraschen. Aber in welchem Maße galt diese für Kreisstädte oder Dörfer? Diese werden von Evtuhov in ihren Beispielen jedoch ausgespart. Ihrem Anspruch, ein Provinzgemälde zu präsentieren, werden diese Ausführungen nicht gerecht.

Der zweite Teil umfasst die ‚strukturellen‘ Kapitel sieben bis elf. Das siebte Kapitel setzt sich mit der Verwaltung des Gouvernements auseinander. Die Autorin vertritt hier die These, dass der zwischen Staat und Gesellschaft bestehende Konsens in den 1890er Jahren erodiert sei, weil Zemstvo-Einrichtungen immer mehr Funktionen des Staats „usurpiert“ hätten (S. 163). Das achte Kapitel erörtert die Landvermessung durch die Zemstvo-Organe. Das neunte ist Kirche und Religion gewidmet, wobei der alte Glaube im Gouvernement Nižnij Novgorod fest und breitenwirksam verwurzelt war. Das zehnte Kapitel beschreibt „kulturelle Nester“ in der Provinz: Hier kontrastiert die Verfasserin einerseits die auch aus der großen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts bekannten beredten Klagen über die Ödnis des Lebens in der russischen Provinz mit dem sich aus unterschiedlichen Quellen speisenden Lokalpatriotismus. Dieser kam etwa bei P. I. Mel’nikov, dem Redakteur der Nižegorodskija Gubernskija Vědomosti zum Ausdruck. Evtuhov untersucht Foren, in denen sich der lokale Stolz ausbilden, entwickeln und manifestieren konnte, also Institutionen der Bildung, der Unterhaltung und der Kommunikation wie Theater, Archiv, Museum, gelehrte Gesellschaften oder Zeitung. Das letzte Kapitel setzt sich mit der Idee von Provinz als einer Synthese lokaler Umwelt und der Konstruktion der regionalen Vergangenheit auseinander. Evtuhov vertritt die Auffassung, dass sich in der Ära der Großen Reformen, partiell schon seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, ein überaus produktiver Synergieeffekt ergeben habe, weil zentralstaatliche Initiativen in der Provinz auf einen fruchtbaren Boden gefallen seien. Als Paradigma, so Evtuhov, könne die konzertierte Aktion, das Gouvernement zu katastrieren, gelten (S. 249).

Die Monographie ist überaus facettenreich. Es gibt kaum einen Bereich, den die Verfasserin nicht thematisiert hat. Aber gerade diese thematische Vielfalt ist auch ein Nachteil. Viele Bereiche werden erwähnt, aber nicht weiter entwickelt und mit der gebührenden Tiefenschärfe analysiert, so dass die Studie einen impressionistischen Charakter statt eines systematischen erhält. Für manche Formulierung, Aussage oder Feststellung fehlt der empirische Beleg. War es wirklich so, dass zahlreiche Vereine und Assoziationen die Adelsversammlung ersetzten (replaced) (S. 235)? Verschwand die Adelsversammlung als gesellschaftliches Forum tatsächlich von der lokalen Bühne oder diversifizierte sich nur das gesellige bzw. gesellschaftliche Leben? Gab es die Adelsversammlung nur in der Gouvernementshauptstadt? Der Befund, dass die Kaufleute in einer vom Handel geprägten Stadt eine nicht unwichtige wirtschaftliche und gesellschaftliche Rolle spielten, klingt nach einer Binsenweisheit (S. 235). Hätte die Verfasserin vermittels des Vergleichs den Königsweg geisteswissenschaftlicher Erkenntnis beschritten, hätte sie eine Einordnung vornehmen und abstrahierende Aussagen treffen können. Diese fehlen jedoch oft, so dass wir über den Kenntnisstand des bruchstückhaften Partikularwissens nicht hinauskommen – sit venia verbo: Provinzidioten bleiben.

In mancher Hinsicht reproduziert die Studie Perspektiven, die Evtuhov auf Reichsebene kritisiert, weil auch sie überwiegend eine top-down-Perspektive einnimmt: Im Mittelpunkt ihrer Ausführungen steht die Gouvernementshauptstadt, nicht die Kreisstädte oder die Bevölkerung des flachen Landes. Die individuellen Protagonisten, deren Biographien dieser Darstellung ein Gutteil Struktur verleihen, sind intelligenty, die das geistige Lebens Nižnij Novgorods prägten. Allerdings webt Evtuhov im Rahmen ihrer Ausführungen zum sozialen Raum auch Einzelschicksale Angehöriger aus dem Bauernstand bzw. dem meščanstvo ein, die ihr Leben in die Hand genommen hätten (gilt dies im Übrigen nicht für die breite Masse der Menschen?) – doch bleibt dies die große Ausnahme.

Überraschend ist eine gewisse sprachliche Indifferenz: Evtuhov verwendet eine contradictio in adjecto und spricht ohne Not von „gentry“ classes. Um das Maß der Irritation voll zu machen, zieht die Autorin die in La Coruña geborene Adlige Emilia Pardo Bazán, die nie einen Fuß nach Russland gesetzt hat und deren Landeskenntnis auf Hörensagen beruhte, als Referenzrahmen heran. Evtuhov zitiert aus deren Werk eine Binsenwahrheit über die Zemstva. Abgesehen von dem paternalistischen Standpunkt Bazáns, den die Autorin nicht interpretiert, bleibt die Frage, warum sie sie überhaupt zitierte (S. 145–146). Weniger wäre hier mehr gewesen und es erstaunt angesichts Evtuhovs einleitender Kritik, mit wie wenig Bedacht sie ihre sozialstratigraphischen Kategorien gewählt hat (S. 121, 145 ff.): Kein Zweifel kann daran bestehen, dass der Militär- auch Staatsdienst war. Dennoch mutet die Formulierung, dass ein Offizier den Staatsdienst verließ, wenn er seinen Abschied nahm, irritierend an (S. 126–127).

Zu würdigen ist neben dem beeindruckenden Kenntnisreichtum der Verfasserin die umfangreiche Materialbasis der Darstellung. Ihr zweites Kapitel zur Ökologie der Provinz ist ein wissenschaftliches Kleinod. Auch die Ausstattung der Monographie mit zahlreichen Karten, sogar farbigen Abbildungen und einem sehr detaillierten Register sind zu loben.

Insgesamt hat Evtuhov aber ein impressionistisches Werk eigenen Stils verfertigt: Es ist pointillistisch. Ob die Vielzahl der zum Teil ohne Interpretation bleibenden Punkte über das l’art pour l’art hinausreicht (vgl. z.B. die Aussagen zur ständischen Zugehörigkeit der Schüler S. 209) und das große Ganze, gleichsam ein Provinzgemälde, ergeben, hängt nicht nur von individuellen Sehgewohnheiten, sondern auch von dem Standpunkt des Betrachters ab. Aus der Distanz mag sich eine Gesamtperspektive bieten, aus der Nähe des Lesenden hingegen nicht: Für ihn bleiben die einzelnen Punkte allzu oft unvermittelt.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Catherine Evtuhov: Portrait of a Russian Province. Economy, Society, and Civilization in Nineteenth-Century Nizhnii Novgorod. Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 2011. XV, 320 S., 6 Taf., 19 Abb., 7 Tab. ISBN: 978-0-8229-6171-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Evtuhov_Portrait_of_a_Russian_Province.html (Datum des Seitenbesuchs)

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