Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), 1, S. 130-132

Verfasst von: Lutz Häfner

 

Roxanne Easley: The Emancipation of the Serfs in Russia. Peace Arbitrators and the Development of Civil Society. London, New York: Routledge, 2009. XII, 226 S., Tab. = BASEES/Routledge Series on Russian and East European Studies, 50. ISBN: 978-0-415-77639-4.

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das Amt des mirovoj posrednik, des Friedensmittlers. Die zarische Regierung hatte es im Zusammenhang mit der Aufhebung der Leibeigenschaft der gutsherrlichen Bauern 1861 aus der Taufe gehoben. Zu den Aufgaben der Friedensmittlers gehörte es, den Landaufteilungsprozess zwischen Gutsherrn und Bauern zu überwachen, alle daraus entstehenden Dispute zu regeln, kleinere Kriminaldelikte zu verfolgen, die neu geschaffenen Organe der bäuerlichen Selbstverwaltung einzuberufen und schließlich, gerade auch vor dem Hintergrund der bäuerlichen Unrast im Kontext der Aufhebung der gutsherrlichen Leibeigenschaft, für Ruhe und Frieden auf dem flachen Land zu sorgen. Das Amt sei, so Easleys These, der Öffentlichkeit bzw. Transparenz (glasnost’) verpflichtet gewesen (S. 2f, 146, 151), und einer der Väter dieses Reformprojektes, der Innenminister S. S. Lanskoj, vertrat die Position, dass von ihm unbedingt alle Kandidaten auszuschließen seien, die im Verdacht stünden, einseitig Adelsinteressen wahr zu nehmen. Die Friedensmittler trugen keine Uniform. Sie traten den Bauern offen, nicht als Repräsentanten der Staatsmacht gegenüber und nahmen, wie die Realität alsbald lehren sollte, deren Interessen durchaus wahr. Obwohl das Statut den Friedensmittlern das Recht zur Körperstrafe von bis zu 20 Schlägen zugestand, machten sie davon selten Gebrauch. Hierdurch und überhaupt durch ihr gesamtes Handeln erwarben sie sich ein hohes Ansehen in der Masse der ländlichen Bevölkerung.

Neben Einleitung und Schluss besteht die Untersuchung aus vier inhaltlichen Kapiteln. Das erste ist den Rahmenbedingungen und der Vorgeschichte gewidmet. Hier greift die Monographie, die im Kern den Jahren 1861 bis 1864 gewidmet ist, bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts zurück. Dieser Teil erörtert die Verwaltungsstrukturen, die Einsicht der Regierung in die Notwendigkeit, diese zu revidieren, sowie die wichtigsten Schritte auf dem Wege zur Bauernbefreiung einschließlich der Diskussionen in der (Presse-)Öffentlichkeit über sie. Das zweite Kapitel beschäftigt sich zunächst mit der Verkündung und Umsetzung der Bauernbefreiung vor Ort. Im Mittelpunkt aber stehen die Friedensmittler, ihr Sozialprofil, ihre Altersstruktur, ihre Herkunft, ihr Verhältnis zum lokalen Adel und zur Lokalpolitik sowie die Haltung des Innenministers P. A. Valuev als Amtsnachfolger Lanskojs zu der Institution des Friedensmittlers. Es handelte sich um wohlhabende, stadtzentriert lebende und überdurchschnittlich gebildete Männer: Der durchschnittliche Friedensmittler war ein 37 Jahre alter Adliger mit 2.000 Desjatinen Gutsbesitz, der über einen Dienstrang (mehrheitlich 8. bis 12. Rang) sowie über mittlere Bildung oder sogar über einen Hochschulabschluss verfügte (S. 83–91). Das dritte Kapitel analysiert die Tätigkeit der Friedensmittler vor Ort. Untersucht werden nicht nur die bäuerlichen Verwaltungsstrukturen sowie die praktische Umsetzung der Bauernbefreiung am konkreten Beispiel einer adligen Gutsbesitzerin im Kreis Mirgorod, Gouvernement Poltava (S. 104ff), sondern auch das wiederholt spannungsvolle Verhältnis der Friedensmittler einerseits zu den lokalen Gutsbesitzern und anderseits zum zarischen Staat. Das abschließende Kapitel diskutiert die Haltung der zeitgenössischen Öffentlichkeit zum Amt des Friedensmittlers auf zwei Ebenen: nämlich zum Ersten der Tageszeitungen ebenso wie der „dicken Journale“, zum Zweiten aber in der zeitgenössischen Belletristik.

Die Studie fußt auf einer breiten Quellengrundlage. Die Verfasserin hat nicht nur die einschlägigen Staatsarchive in Moskau und St. Petersburg benutzt, sondern darüber hinaus auch Bestände des Gebietsarchivs von Tula ausgewertet. Zu bedauern ist, dass sich Easley über die Gründe, gerade dieses Gebietsarchiv zu besuchen, ausschweigt. Ergänzt wird die Quellenbasis durch publizierte offizielle Dokumente, einen umfänglichen Rekurs auf Periodika sowie auf die Ego-Dokumente einiger Friedensmittler, unter denen sich herausragende obščestvennye dejateli (gesellschaftliche Akteure) der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts befanden, wie z. B. die Schriftsteller L. N. Tolstoj oder M. E. Saltykov-Ščedrin, aber auch hochrangige Beamte wie der wirkliche Geheimrat und spätere Reichsratsvorsitzende A. N. Kulomzin, oder auch der bedeutende Kalugaer Jurist, Zemstvo-Abgeordnete und Begründer der Gesellschaft für Kinderschutz P. N. Obninskij.

Easley arbeitet deutlich heraus, wie hartnäckig Innenminister Valuev versuchte, den Spielraum der Friedensmittler einzuschränken, auch weil er sie revolutionärer Umtriebe bezichtigte (S. 137). Gegen administrativen Druck waren sie jedoch gefeit. Allerdings erlaubte das Statut, Friedensmittlerbezirke, wenn es „notwendig“ erschien, aufzuheben. Hier setzte Valuev an, nachdem er zuvor damit gescheitert war, die Institution der Friedensmittler der Jurisdiktion seines Ministeriums zu unterstellen: Mitte 1863 erhielt er die Zustimmung des Zaren, die Ausgaben für die Friedensmittler zu reduzieren. Die ursprünglichen Planungen der Regierung sahen vor, 1210 Friedensmittler – je einen auf 10.000 männliche Seelen – zu berufen. Da es sich um ein prestigeträchtiges Wahlamt mit recht großer Eigenständigkeit und weitreichenden Kompetenzen handelte und es zudem mehr als gut bezahlt war, waren für den lokale Adel, der ausschließlich diese Posten bekleiden durfte, ca. 500 zusätzliche Stellen geschaffen. Indem Valuev nun auf Ausgabendisziplin drang, konnte er ihm unliebsame Friedensmittler der ‚ersten Stunde‘ nach Ablauf ihrer ersten Amtsperiode von drei Jahren aus dem Amt drängen. Diejenigen, die nicht ausscheiden wollten, verblieben ohne Wahl – hier griff eine neue Verwaltungsrichtlinie – automatisch ein weiteres Jahr im Amt. Prinzipiell erfolgte die Wahl durch den lokalen Adel, auf den der Gouverneur sowie der Gouvernements- und Kreisadelsmarschall Druck ausüben konnte. Das in der ursprünglichen Konzeption vorgesehene Wahlrecht der Bauern wurde nie realisiert (S. 158). So erreichte Valuev, dass ca. 440 Friedensmittler, etwa ein Viertel der Gesamtzahl, keine zweite Amtszeit ausübten. Laut Easley seien im Gouvernement Smolensk mehr als drei Viertel der Friedensmittler ausgetauscht worden, in anderen Gouvernements, wie z. B. Kazan’, Kaluga oder Tver’, habe die Fluktuation bei über 60 % gelegen. Die Gründe hierfür blieben unklar, allerdings sei die Fluktuation keineswegs ausschließlich administrativem Druck geschuldet gewesen. Ein nicht geringer Teil der Friedensmittler demissionierte – frustriert über und zermürbt durch die alltäglichen Widrigkeiten vor allem im Umgang mit den Gutsbesitzern und der staatlichen Administration. Diese versuchte mit ihrem Kurs revitalisierter Patronage bis hin zur Verhaftung von 13 Friedensmittlern im März 1862 gesellschaftliche Initiative einzuschränken (S. 137ff). Viele Friedensmittler brachen daher zu neuen Ufern auf. Sie fanden oft in den Zemstva eine neue Heimat oder wirkten fortan als Friedensrichter. Als die Institution des Friedensmittlers Ende Juni 1874 abgeschafft wurde, war lediglich noch etwa ein Zehntel der Männer der „ersten Stunde“ im Amt.

Die konservative, adelsnahe Presse weinte, wie es die Zeitung „Vest’“ Mitte Januar 1864 formulierte, diesen Protagonisten einer „Mužikophilie“, die sich wie Blattläuse an dem Wohlergehen und der Prosperität des ländlichen Russland gütlich täten, keine Träne nach. Bemerkenswert ist aber, dass die ‚liberale‘ Presse zu diesem Zeitpunkt kaum mehr ein Gegengewicht darstellte. Der polnische Aufstand von 1863, verbundenen mit einem russozentrischen Patriotismus, die Feuersbrünste z. B. in St. Petersburg, die Diskussionen um die Einführung der Justiz- und Zemstvo-Reformen und nicht zuletzt eine wieder deutlicher spürbare Zensur, so die Darstellung Easleys, hätten einen nachhaltigen Protest gegen die Entlassung zahlreicher Friedensmittler der ersten Stunde verhindert (S. 162, 177). Diejenigen, die an ihrer Statt berufen wurden, galten als stromlinienförmiger. Gleichwohl blieben etwa 20 % der Friedensmittlerbezirke in den 43 Gouvernements und drei Gebieten des Zarenreichs unbesetzt. Das finanzielle Argument war also nicht nur vorgeschoben.

Der Untertitel der Studie ist irreführend, denn die Zivilgesellschaft steht keineswegs im Fokus dieser Studie. Im Text findet sie ein halbes Dutzend Mal Erwähnung. Angesichts der Tatsache, dass das Amt der Friedensmittler vom Staat geschaffen wurde, stand es in der Tradition der Reformen von oben, einer – wie es Dietrich Geyer vor über vier Jahrzehnten mit seiner inzwischen klassisch zu nennenden Formulierung ausdrückte: „Gesellschaft als staatliche Veranstaltung“. Diese staatliche Initialzündung fiel aber auf einen fruchtbaren gesellschaftlichen Boden. Die Friedensmittler der ersten Stunde versuchten, ihren Handlungsspielraum zu erweitern. Ihre Aktionen könnten insofern als zivilgesellschaftlich gedeutet werden. Allerdings handelten die Friedensmittler individuell und trafen sich nur auf Kreisebene. Offenbar genügten bereits diese Zusammenkünfte, um den Staat, der die Kontrolle nicht verlieren wollte, auf den Plan zu rufen. Inwieweit es jedoch angemessen ist, dieses Handeln ohne Geselligkeit, ohne regelmäßig besuchte gemeinsame Foren und eigene organisatorische Strukturen als zivilgesellschaftlich zu charakterisieren, bleibt dahingestellt. Offenbar bestand die Absicht, das Interesse an dieser unprätentiösen Studie durch die Suggestivkraft der Zivilgesellschaft zu erhöhen. Dieser Volte hätte es nicht bedurft; denn die Darstellung überzeugt durch eine präzise Sprache, eine plausible Argumentation sowie ein klares Urteil.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Roxanne Easley The Emancipation of the Serfs in Russia. Peace Arbitrators and the Development of Civil Society. London, New York: Routledge, 2009. XII. = BASEES/Routledge Series on Russian and East European Studies, 50. ISBN: 978-0-415-77639-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Easley_Emancipation_of_the_Serfs.html (Datum des Seitenbesuchs)

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