Viktor Michajlovič Černov V partii socialistov-revoljucionerov: vospominanija o vos’mi lide­rach [In der Partei der Sozialrevolutionäre: Erinnerungen an acht Führer]. Publikacija, vstupitel’naja stat’ja, podgotovka teksta i kommentarii A. P. Novikova i K. Chuzer. Izdat. Dmitrij Bulanin S.-Peterburg 2007. 519 S., 8 Abb.

Viktor M. Černov war ein relativ langes Leben beschieden – er lebte von 1873 bis 1952. In der Geschichte des Neopopulismus (neonarodni­čest­vo) in Russland spielte er eine führende Rolle. Černov war Mitglied der in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Saratov gegründeten „Partei des Volksrechts“, zählte zu den Mitbegründern der „Agrarsozialistischen Li­ga“ im Jahr 1900 und zwei Jahre später der „Partei der Sozialrevolutionäre“ (PSR). Er profilierte sich als führender Theoretiker und zeichnete verantwortlich für das 1904 vorgelegte Parteiprogramm. Neben seinen Funktionen als langjähriges Mitglied des Zentralkomitees und nach der Februarrevolution 1917 kurzfristig als Landwirtschaftsminister der Provisorischen Regierung war Černov vor allem publizistisch tätig. Sein umfangreiches Œuvre umfasst über 1.000 Publikationen, darunter mehrere Bücher, zahlreiche Broschüren, Aufsätze, Artikel und Aufrufe. Darüber hinaus wirkte er als Redakteur in mehreren Periodika mit wie z.B. bei dem zwischen 1907 und 1914 erscheinenden Zentralorgan der PSR „Znamja Truda“, dem seit 1910 in Paris publizierten Journal „Socialist-Revoljucioner“ oder auch den seit Frühjahr 1912 in St. Petersburg legal erscheinenden „Zavety“.

Nach Revolution und Bürgerkrieg beschäftigte sich Černov in seinen Werken nicht nur mit theoretischen Problemen des Sozialismus. Er wandte sich vermehrt der Geschichts­schreibung zu, insbesondere zur Russischen Revolution von 1917, publizierte aber auch Arbeiten mit autobiographischen Zügen zur sozialrevolutionären Bewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert wie beispielsweise die „Zapiski socialista-revoljucionera“ [Aufzeichnungen eines Sozialrevolutionärs], die 1922 im Berliner Verlag Z. I. Gržebin erschienen. Von hier aus war es nur noch ein kurzer Weg zu biographischen Skizzen revolutionärer Zeitgenossen bzw. Erinnerungen an Parteigenossen.

In die vorliegende Edition haben Černovs Skiz­zen, die sich in der Nicolaevsky-Kollektion des Archivs der „Hoover Institution on War, Revolution, and Peace“ befinden, über acht führende jüdische Sozialrevolutionäre, nämlich M. A. Natanson (1850–1919), I. A. Rubanovič (1859–1922), O. S. Minor (1861–1932), S. A. An-skij (1863–1920), Ch. O. Žitlovskij (1865–1943), G. A. Geršuni (1870–1908) sowie die Brüder M. R. (1866–1906) und A. R. Goc (1882–1940), Eingang gefunden. Den Ausführungen liegt eine weit gefasste Definition von Erinnerung zugrunde, und zwar nicht im Sinne von gemeinsam Erlebtem, sondern im analytischen Sinne, d.h. eines kollektiven Gedächtnisses, das durch gruppenbezogene Kommunikation und Interaktion konstituiert wird.

Černovs „Erinnerungen“ beruhen also nicht ausschließlich auf eigener Anschauung und sind keinem einheitlichen Darstellungsprinzip verpflichtet, sondern unterliegen überaus subjektiven Schwerpunktsetzungen. So berichtet Černov sehr warmherzig über M. R. Goc und G. A. Geršuni, mit denen er sehr eng zusammenarbeitete, und äußert sich zugleich hochachtungsvoll über deren moralische Standards und revolutionäre Verdienste (S. 290–291, 346). Auch seine Wertschätzung für I. A. Rubanovič, der gleichsam als „Außenminister“ der PSR fungierte und ihre Interessen vor allem bei der II. Internationale vertrat, ist im Text spürbar. Hier musste sich Rubanovič immer wieder ehrabschneidender Vorwürfe und Rankünen insbesondere der Russischen Sozialdemokraten erwehren. Diese verweigerten den SR lange Zeit die Anrede „Genossen“, sondern sprachen sie als „Herren“ (gospoda), im besseren Falle als „Bürger“ (graždane) und später als „revolutionäre Genossen“ an, verweigerten ihnen also das ideologische Etikett „sozialistisch“. Mehr noch: Der „Vater des russischen Marxismus“, G. V. Ple­cha­nov, charakterisierte die PSR als „Fraktion der bürgerlichen Demokratie“ und diffamierte sie im SPD-Organ „Vorwärts“ als „Sozial[is­ten]-Reaktionäre“ (S. 192–193, 198–199). Hingegen sind den Ausführungen Černovs über M. A. Natanson seine Vorbehalte deutlich zu ent­nehmen, die vor allem dessen Positionen seit Ausbruch des Ersten Weltkriegs geschuldet waren. Natanson, den Černov als „Cunctator“ bezeichnete und dem er jede politische Intuition absprach (S. 61), teilte nämlich die Positionen der Zimmerwalder Linken. Er befürwortete eine Niederlage des zarischen Russland und plädierte dafür, den Welt- in einen (internationalen) Bürgerkrieg zu transformieren. Mit dieser linksinternationalistischen Position befand sich Na­tan­son, der im Spät­herbst 1917 zu den Gründungsvätern der Partei der Linken Sozialrevolutionäre (PLSR) gehören sollte, vor allem im ZK der PSR in völliger Isolation. Diese politische Ent­fremdung, die Černovs Formulierungen deut­lich zu entnehmen ist, wurde noch vertieft, als Natanson die im Dezember 1917 gebildete Koalitionsregierung der PLSR mit den Bol’ševiki befürwortete und Anfang Januar 1918 die Auflösung der Konstituierenden Versammlung akzeptierte.

Akribische Sorgfalt haben die Herausgeber auf die Bearbeitung des Manuskriptes nicht verwandt. Ihre Arbeit beschränkte sich auf ein kur­zes Vorwort und etwa 100 Seiten Kurzbiographien von im Text erwähnten Personen. Diese wirken etwas sehr umfangreich, was aber nicht unwesentlich – verzichtbaren – Einträgen zu Napoleon Bonaparte, Friedrich Nietzsche u. a. m. geschuldet ist. Im Übrigen werden keineswegs alle im Text erwähnten Personen berücksichtigt (vgl. S. 225). Offenbar ließen sich nicht zu allen biographische Informationen ermitteln; darüber findet sich jedoch keine editorische Notiz. Zudem ist zu bedauern, dass die Herausgeber auf ein Personen- und Sachregister verzichtet und von Kommentaren zu den behandelten Sachverhalten weitestgehend Abstand genommen haben.

Angesichts solch geringer editorischer Standards stellt sich die Frage nach dem Sinn einer solchen Publikation umso mehr. Wer sich mit der Geschichte der PSR und ihrer Vorläuferorganisationen, dem sozialrevolutionären Terrorismus, den Bedingungen in zarischen Haftanstalten bzw. der sibirischen Verbannung oder auch den Positionen führender Sozialrevolutionäre in der Russischen Revolution 1917 beschäftigt, der wird diese Quelle durchaus mit Gewinn lesen – doch wird dies ein überschaubarer Interessentenkreis sein. Die übrigen dürfen wenigstens gewiss sein, kaum etwas versäumt zu haben.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Viktor Michajlovič Černov: V partii socialistov-revoljucionerov: vospominanija o vos'mi liderach [In der Partei der Sozialrevolutionäre: Erinnerungen an acht Führer]. Publikacija, vstupitel'naja stat'ja, podgotovka teksta i kommentarii A. P. Novikova i K. Chuzer. Izdat. Dmitrij Bulanin S.-Peterburg 2007. ISBN: 5-86007-510-3, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 1, S. 117-119: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Cernov_V_partii.html (Datum des Seitenbesuchs)