Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 4, S. 649-650

Verfasst von: Lutz Häfner

 

Paul Bushkovitch: A Concise History of Russia. Cambridge [usw.]: Cambridge University Press, 2011. 491 S., 20 Abb. = Cambridge Concise Histories. ISBN: 978-0-521-83562-6.

Paul Bushkovitch, Professor an der Yale University, ist ein durch mehrere Monographien zu Fragen der Religion, der Gesellschaft und zu Zar Peter I. ausgewiesener Spezialist der Russländischen Geschichte vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert. Nun hat er sich der schwierigen Aufgabe gestellt, auf knapp 460 Seiten Text eine Synthese, gleichsam ein Kondensat der mehr als tausendjährigen Geschichte des Russländischen Reichs zu schreiben. Ein solches Unterfangen stellt hohe Anforderungen, weil der Raum für Differenzierungen und ausholende Erklärungen begrenzt ist, knapp und präzise formuliert und immer wieder die Entscheidung getroffen werden muss, was relevant, was verzichtbar ist. Gerade diese Abwägung gelingt dem Verfasser nicht immer. Auf Kosten wiederholt wünschenswerter Differenzierungen teilt er uns, um nur ein Beispiel zu nennen, dafür lieber die letzten Worte Alexanders II. mit, die er nach dem auf ihn verübten Bombenanschlag äußerte (S. 206).

Bushkovitch gliedert seinen Stoffim Wesentlichen chronologischin 23 Kapitel, von denen jedes eine Länge von etwa 20 Seiten aufweist. Die einzelnen Kapitel werden nicht zu Abschnitten zusammengefasst. Schwerpunktsetzungen sind gleichwohl erkennbar. Auf die Geschichte bis zum Beginn der Neuzeit unter Peter I. entfallen vier Kapitel. Das 18. Jahrhundert bis zum Ende der Nikolaitischen Epoche wird in sechs Kapiteln thematisiert, wobei eines der (Hoch-)Kultur, d. h. der Musik, den bildenden Künsten, im Wesentlichen aber der Literatur gewidmet ist. Das späte Zarenreich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird in fünf Kapiteln erörtert. Drei weitere skizzieren die Zeitspanne vom Ersten Weltkrieg bis zur Stalinschen Revolutionvon oben, je ein weiteres den Stalinismus und den Zweiten Weltkrieg. Auf die Nachkriegszeit bis einschließlich der Brežnev-Ära verwendet der Verfasser drei Kapitel. Ein kurzer Epilog, der nicht in die Kapitelzählung aufgenommen wurde, erörtert den Zusammenbruch der Sowjetunion und die Etablierung der neuen Strukturen der Russischen Föderation unter Boris Jelzin.

Methodisch ist die Darstellung der Erzählung verpflichtet. Das Narrativ mag für weniger beschleunigte Zeitläufte akzeptabel sein, doch mit zunehmender Komplexität der Sachverhalte stößt diese Verfahrensweise an ihre Grenzen. Da sich Strukturen nicht erzählen lassen, verzichtet die Darstellung im Wesentlichen darauf, sie zu behandeln. Ein Blick auf die Ausstattung des Buches erhärtet diesen Befund. Es ist zwar mit sechs Karten und 20 Abbildungen versehen, von denen die Hälfte bedeutende Akteure wie Zaren, zarische Würdenträger, Künstler und Revolutionäre zeigen, doch werden diese nicht in den Text eingebunden. Sie mögen einen ästhetischen Wert haben, aber keinen funktionalen. An ihrer Statt wäre es besser gewesen, Diagramme, Statistiken, Schaubilder etc. über die Sozialstruktur, die Entwicklung der Bevölkerung, der Wirtschaft u.a.m. zu präsentieren. Dieser blinde Fleck ist ein schwerwiegendes Manko, das den Wert des Werkes deutlich mindert.

Insgesamt präsentiert der Verfasser gerade für die doch sehr dynamische Entwicklung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Bild, das wenig mit den Erkenntnissen der neueren Forschung harmoniert. Offenbar mit Blick auf die soziale und wirtschaftliche Verfassung des russischen Dorfes bezeichnet der Verfasser die dortigen Verhältnisse als weitgehend vormodern, wenn nicht sogar unveränderlich („largely unmodernized, if not unchanging) und bedient sichan europäischen, ja sogar an asiatischen Standards gemessendes Verdiktsrückständig(S. 221). Hier wird die Geschichte gleichsam über einen Kamm geschoren, alles normativ an der europäischen Elle gemessen. Was dem nicht entspricht, wird als Defizitgeschichte abgetan, ohne auch nur einen Gedanken aufmultiple modernitiesund unterschiedliche Entwicklungswege zu verwenden.

Der Waschzettel gibt Auskunft über den potentiellen Leserkreis des Werkes: Studenten, Touristen, den interessierten Normalverbraucher. Dies mag erklären, weshalb die Darstellung völlig auf Anmerkungen bzw. ein Quellen- und Literaturverzeichnis verzichtet. Einige Literaturempfehlungen zu den jeweiligen Epochen, partiell mit kurzen Kommentaren versehen, können dieses Defizit nicht kompensieren. Im Übrigen avisiert die Verlagsreklame, dass seit dem Zerfall der Sowjetunion zahlreiche neue Materialien erschlossen, neue Konzeptionen zur Erklärung der Geschichte des Russländischen Reiches entwickelt worden seien. Dies ist richtig; aber sie haben im Wesentlichen keinen Eingang in die vorliegende Studie gefunden. So ist diese Synthese keineswegs auf dem jüngsten Forschungsstand. Zum Teil erweisen sich die Ausführungen als sinnentstellend, partiell auch als schlichtweg falsch. So suggeriert Bushkovitch beispielsweise einerseits, dass die bäuerlichen Loskaufzahlungen über die Revolution von 1905 angedauert hätten, und versucht damit, Kapitalarmut und letztlich mangelnde Investitions- und Innovationsbereitschaft der Bauern zu erklären (S. 219). Des Weiteren schreibt er der Partei der Sozialrevolutionäre die Verantwortung für das Attentat auf den Vorsitzenden des Ministerrats P. A. Stolypin im September 1911 zu (S. 289). Dabei wies zum einen das ZK der PSR in öffentlichen Erklärungen, die in der zeitgenössischen europäischen Presse publiziert wurden, nicht nur jede Verantwortung für den Anschlag von sich; zum anderen verfügte der Attentäter, ein Mitarbeiter der Geheimpolizei, über Verbindungen ins anarchistische Lager.

Im Übrigen folgt die Erzählung nicht immer der Chronologie der Ereignisse und dürfte den nicht einschlägig vorgebildeten Leser verwirren. Auch die jeweiligenKultur-Kapitel‘ überzeugen nicht. Sie sind Appendices, die sich wie eine kondensierte Literaturgeschichte lesen. Das Register ist recht umfassend, enthält aber weder das Stichwort Arbeitsmigration noch Migration. Dies überrascht umso mehr, als der Verfasser sich an mehreren Stellen mit dem für die imperiale Geschichte bedeutsamen Phänomen der Ansiedlung russischer Bauern in Kazachstan und Sibirien im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auseinandersetzt allerdings mit einer bemerkenswert einseitigen und positiven Beurteilung, die die Vorbehalte der dortigen Bevölkerung, der sibirjaki wie der Indigenen, sowie die daraus resultierenden sozioökonomischen, kulturellen und ethnischen Konflikte nahezu ausblendet (S. 222).

Angesichts dieser insgesamt wenig überzeugenden Ausführungen Bushkovichs sei jedem Interessierten dringend angeraten, sich an Werken anderer Verfasser und Verlage zu orientieren. Damit sind sie in jedem Fall besser informiert.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Paul Bushkovitch: A Concise History of Russia. Cambridge [usw.]: Cambridge University Press, 2011. 491 S., 20 Abb. = Cambridge Concise Histories. ISBN: 978-0-521-83562-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Bushkovitch_Concise_History_of_Russia.html (Datum des Seitenbesuchs)

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