Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 155-156

Verfasst von: Joachim Otto Habeck

 

Lukas Allemann: Die Samen der Kola-Halbinsel. Über das Leben einer ethnischen Minderheit in der Sowjetunion. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2010. 130 S., 18 Abb., Kte., Tab. = Menschen und Strukturen. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien, 18. ISBN: 978-3-631-61201-9.

Lukas Allemann liefert auf der Grundlage von biographischen Interviews einen sorgfältig ausgearbeiteten und willkommenen Beitrag zur Geschichte der indigenen Bevölkerung im Hohen Norden Russlands im 20. Jahrhundert. Am Beispiel der Sami der Kola-Halbinsel demonstriert er, wie staatlich verordnete, groß angelegte Entwicklungsprojekte narrativ nacherlebt und bewertet werden.

Allemanns Ausführungen beruhen empirisch auf seinen biographischen Interviews mit fünf Frauen (geboren im Zeitraum 1928 bis 1939) in Lovozeroein Ort, der ab 1964 zur zentralen Siedlung der Sami auf Kola ausgebaut wurde. Insbesondere geht er der Frage nach, welche positiven und negativen Lebenserfahrungen seine Informantinnen mit der Sowjetzeit verbinden. Nach einer theoretisch-methodischen und regionalgeschichtlichen Einführung gibt er den Inhalt der fünf Interviews in Kurzform wieder. In der darauf folgenden, vergleichenden Analyse beschränkt er sich auf drei Interviews. Zwar findet er diesen Schritt selbst bedauerlich, doch gelingt es ihm, die Gründe und Kriterien der Auswahl einleuchtend zu benennen (S. 65).

Allemann demonstriert, dass der Prozess des ukrupnenie (Zusammenlegung der landwirtschaftlichen Betriebe und Siedlungen) von zwei der drei Gesprächspartnerinnen als besonders einschneidend und schädlich empfunden wurde. Er folgert daraus,dass das größte Übel für viele Samen nicht die Kollektivierung an sich und nicht der stalinistische Terror, sondern die Umsiedlungen waren(S. 115). Hier stellt sich die Frage, ob diese Bewertung nicht einfach dem Alter der Informantinnen geschuldet ist, denn diese gehören einer Alterskohorte an, die die entscheidende Phase der Kollektivierung nicht (oder nicht bewusst) miterlebt hat. Des Weiteren wäre zu hinterfragen, ob sich die Umsiedlungen zeitlich und ursächlich von der Kollektivierung und den stalinzeitlichen Repressionen so klar abgrenzen und einander gegenüberstellen lassen, wie der Autor es tut. Die ersten Umsiedlungen begannen bereits in den späten 1930er Jahren (S. 44, 7475)auf Kola ebenso wie andernorts in der Sowjetunion (s.u.)und sie bildeten den Auftakt für die Umsiedlungen in den drei folgenden Jahrzehnten.

Dem Autor ist jedenfalls zuzustimmen, dass die Zusammenlegung der landwirtschaftlichen Betriebe und ländlichen Siedlungen bisher relativ selten in der wissenschaftlichen Betrachtung der Geschichte der Sowjetunion thematisiert wurde. Allemanns Rekonstruktion befindet sich in Übereinstimmung mit anderen Veröffentlichungen über die Prinzipien und den Ablauf der Umsiedlungen im Hohen Norden der Sowjetunion (u.a. David G. Anderson Identity and Ecology in Arctic Siberia: the Number One Reindeer Brigade. Oxford 2000; Gail  A. Fondahl Gaining Ground?: Evenkis, Land, and Reform in Southeastern Siberia. Boston 1998; Joachim Otto Habeck Seßhaftwerdung und Seßhaftmachung sibirischer Rentiernomaden: Siedlungsstruktur und Siedlungsgeschichte im Ewenkischen Autonomen Kreis. Münster 1998).

Allemann hätte etwas präziser auf die Gesprächssituationen und vor allem die Motivation der Gesprächspartnerinnen eingehen können. Zwar unterlag die Auswahl bis zu einem bestimmten Grad dem Zufall (S. 32), doch ist die Liste möglicher Interviewpartner, die ihm von einer Akademikerin in Murmansk gegeben wurde, beeinflusst von bestimmten Konventionen in den ländlichen Gemeinden Russlands, wer zu erzählen legitimitiert ist. Es ist bezeichnend, dass es sich bei einer der Gewährspersonen, nämlich Nina Afanasjeva, um die bekannteste Aktivistin der Sami in Russland handelt. Ihre Rolle alsspokespersonhat unweigerlich Einfluss auf die Form und den Inhalt des Interviews. Sie redet über sich, aber nicht allein für sich, sondern als Sprecherin der Sami (S. 48). Ihre herausgehobene Funktion und ihre narrativen Strategien hätten einer expliziteren Betrachtung bedurft.

Während die Topoi der Interviews von Allemann differenziert herausgearbeitet und interpretiert werden, bleibt die Aufzählung der heutigen ökonomischen und ökologischen Probleme der Sami (S. 110114) eher oberflächlich; auch stilistisch wirkt sie wie ein Anhängsel. Die beigefügte Karte ist drucktechnisch unzureichend: hier hätte eine schematische Darstellung bessere Dienste geleistet.

Die genannten Kritikpunkte mindern jedoch kaum den Wert der Untersuchung. Lukas Allemann gebührt große Anerkennung für seine Arbeit, die hoffentlichwie von Heiko Haumann im Vorwort vermerktAnlass zu weiteren Forschungen zur Oral History im Hohen Norden Russlands gibt.

Joachim Otto Habeck, Hamburg

Zitierweise: Joachim Otto Habeck über: Lukas Allemann: Die Samen der Kola-Halbinsel. Über das Leben einer ethnischen Minderheit in der Sowjetunion. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2010. 130 S., 18 Abb., Kte., Tab. = Menschen und Strukturen. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien, 18. ISBN: 978-3-631-61201-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Habeck_Allemann_Samen_der_Kola-Halbinsel.html (Datum des Seitenbesuchs)

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