Heinz-Dietrich Löwe (Hrsg.) Volksaufstände in Rußland. Von der Zeit der Wirren bis zur „Grünen Revolution“ gegen die Sowjetherrschaft. Wiesbaden 2006. 563 S., Tab. = Forschun­gen zur osteuropäischen Geschichte, 65.

Der Heidelberger Ordinarius für osteuropäische Geschichte Heinz-Dietrich Löwe zeichnet verantwortlich für die Herausgabe eines Sammelbandes, der zweifellos eine Forschungslücke zu beheben vermag. Obwohl Aufstände in der russländischen Geschichte bekanntlich kein seltenes Phänomen darstellten, wurde, wie Löwe in seinem einleitenden Beitrag zu den Aspekten einer vergleichenden Interpretation der Aufstände im Russländischen Reich zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert bemerkt, nie der Versuch unternom­men, diesem Phänomen eine zusammenfassende Untersuchung zu widmen. Und selbst die einzelnen Aufstände sind bislang größtenteils kaum einer wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Analyse unterzogen worden. Jahrzehntelang war die sowjetische Historiographie, die durchaus neue Erkenntnisse zu den einzelnen Aufstandsgeschehnissen liefern konnte, bei ihrer grund­sätzlichen Interpretation vom Klassenparadigma bestimmt. Dass eine derart ideologisch gefärbte Herangehensweise in keiner Weise der Komplexität gerecht werden konnte, muss wohl kaum betont werden. Diesbezüglich sei nur daran erinnert, dass die Aufstände unter Bolotnikov, Razin, Bulavin und Pugačev (vgl. die Beiträge von Krispin, Schleuning / Tuchten­ha­gen, Löwe und Plate) allgemein als „Bauernkriege“ klassifiziert wurden, womit – hierauf hatte Leo Yaresh zum Teil schon 1957 hingewie­sen – zentrale Aspekte der Aufstände ausge­blendet, unterbewertet oder missinterpretiert wurden. Umgekehrt wies aber auch die westliche Geschichtsschreibung interpretatorische Defizite auf, da sie oftmals einseitig einzelne Aufstände als „unpolitisches Aufbegehren unaufgeklärter Volksmassen“ (S. 1) abtat.

In seinem äußerst gelungenen Beitrag zu Beginn des Bandes, der nicht nur einen Überblick und eine Zusammenschau der wichtigsten Aufstände im Russländischen Reich vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, sondern quasi einen Abriss der grundlegenden politischen und sozialen Ent­wicklungen in dieser Zeit bietet, vertritt Löwe in überzeugender Weise die Meinung, dass der An­lass für Aufstände häufig durch „Verfassungs­brüche“ bedingt war, wobei er diese nicht im westlichen Sinne als „Bruch juristischer Fest­legungen und Verfahren“ verstanden wissen will, sondern als „Verletzung der symbolischen Strukturen“ bzw. als Brüche „in der Semiotik von Herrschaftsdarstellung und Ausübung“ (S. 1). Insofern waren die meisten der behandelten Aufstände keineswegs, wie gerade in sowjetischen Darstellungen nicht selten suggeriert wur­de, von einer grundsätzlichen Ablehnung der politischen und sozialen Verhältnisse bestimmt, sondern vielmehr von einer populären Auffassung von einer gerechten, in Tradition und Glauben tief verwurzelten Herrschaftsordnung, die auf einem gegenseitigen Treueverhält­nis von Zar und „Volk“ beruhte. Diesem Ansatz versuchen die Beiträger, unter ihnen auch Löwe mehrfach selbst, zu folgen, indem sie bekannte und weniger bekannte Aufstände der russländischen Geschichte in ihrer ganzen Komplexität un­tersuchen und dabei monokausalen Erklärungs­ansätzen eine deutliche Absage erteilen.

Wie ein roter Faden durchzieht viele Beiträge die These, oftmals sei eine der wesentlichen Ursachen für Aufstände der Umstand gewesen, dass die Trägerschichten der Erhebungen ihre traditionellen, auf Gewohnheit und/oder Privilegien beruhenden (Vor‑)Rechte und damit ihre Le­bensweise ernsthaft bedroht sahen bzw. dass sie gegen die ihrem Verständnis nach als illegitim empfundenen Handlungen der Oberschicht protestierten oder sich allgemein gegen das Vordringen des modernen Staates in Bereiche wandten, die bislang einen gewissen Grad an Autonomie aufgewiesen hatten. Dies gilt nicht nur für die sogenannten Kosakenaufstände des 17. und 18. Jahrhunderts, die freilich weitaus heterogener in ihrer Zusammensetzung waren, als der Begriff suggerieren mag, sondern auch für die zahlreichen städtischen Erhebungen des 17. Jahrhunderts, darunter der Strelitzenaufstand von 1682. Gerade der von Löwe stammende Bei­trag zu diesem Aufstand setzt in mustergültiger Weise den Anspruch um, die in dem Aufstand zutage tretende Vielschichtigkeit von sym­bo­lischen Handlungen und traditionalistischem Rechtsempfinden aufeinander zu beziehen und somit zu neuen Erklärungsansätzen für das Verhalten der Strelitzen zu gelangen. Darüber hin­aus versäumt Löwe es aber auch nicht, auf Analogien im Rechtsverständnis zwischen Strelitzen und Kosaken zu verweisen, so zum Beispiel auf das Recht des freien Abzugs oder des direkten Zugangs zum Zaren – Rechte, die ein zunehmend autokratisch verfasster Staat nicht mehr länger zugestehen wollte. Insbesondere die Durchsetzung der autokratischen, in die Peripherie und die unteren Ebenen durchdringende Herrschafts­ordnung führte dazu, dass nach dem Ende des 17. Jahrhunderts, dem „Jahrhundert der Aufstände schlechthin“ (S. 18), Erhebungen nicht nur quantitativ deutlich abnahmen, sondern auch qualitativ eine erhebliche Änderung erfuhren. Als vielleicht letztes Aufbäumen gegen dieses als illegitim und ungerecht empfundene Herrschaftsverständnis, in dem für die Vorstellung eines Treueverhältnisses auf Gegenseitigkeit kein Platz mehr war, kann die Rebellion unter Pugačev (1773–1775) gesehen werden. Die Re­aktionen Katharinas II. nach der Niederschlagung zeigten jedoch mehr als deutlich, dass sich die Autokratie von dem eingeschlagenen Weg nicht mehr abbringen lassen wollte.

Im 18. und 19. Jahrhundert nahmen insbeson­dere auch die städtischen Aufstände stark ab. Sie entzündeten sich – wie die Beiträge von Kuhl und Mörters zu den Pestunruhen in Mos­kau von 1771 und zu den Choleraunruhen in St. Petersburg 1831 sehr anschaulich zeigen – in erster Linie am Vorgehen der Behörden gegen die Ausbreitung der Epidemien, das auch den Bereich der Religion tangierte und von der Be­völkerung als „fundamentale Verletzung der religiösen Rituale“ (S. 350) empfunden wurde.

Der letzte Beitrag des Bandes fällt etwas aus dem Rahmen. Während sich alle anderen auf Er­he­bungen im Zarenreich beziehen, behandelt die­ser mit der sogenannten Antonovščina (1920/21) einen vor allem von Bauern getragenen Aufstand im Gouvernement Tambov während der Frühphase der keineswegs konsolidierten Sowjet­herrschaft. Überzeugend gelingt es Krispin darzulegen, dass dieser Aufstand, der innerhalb der „Grünen Bewegung“ bäuerlichen Protests ge­gen die bol’ševiki einer von vielen, wenn auch einer der heftigsten und prominentesten war, keineswegs allein ökonomisch bedingt war als Wi­derstand gegen die „Versorgungsdiktatur“ der bol’ševiki, sondern insbesondere auch bestimmt war von politischen Forderungen, die weit über die vermeintlich traditionelle Lebenswelt des Dorfes hinausreichten. So hatten sich die Aufständischen unter dem Sozialrevolutionär Antonov, die ihre massive Erhebung selbst als „Revolution“ betrachteten, nichts weniger als einen Regimewechsel, die Gewährung aller bür­gerlichen Rechte sowie die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung auf das rote Banner geschrieben und sich somit als Verfechter der Februarrevolution und der Provisorischen Regierung zu erkennen gegeben. Damit zeigte sich ein durchaus entwickeltes politisches Bewusstsein unter der Bauernschaft, das zum Teil schon – wie die beiden Beiträge von Sche­de­wie und Dahlmann zur Revolution von 1905 deutlich machen – in der ersten russischen Revolution zutage getreten war.

Die überwiegende Mehrheit der Beiträge ist aus zwei von Löwe gehaltenen Hauptseminaren hervorgegangen, was – wie auch Löwe zu Recht bemerkt – zeigt, dass schon Studierende unter entsprechender Anleitung in entscheidender Weise zur historischen Forschung beitragen kön­nen.

Ein großes und wirklich ärgerliches Manko dieses insgesamt sehr gelungenen Sammelbandes, das jedoch weniger dem Herausgeber und den Verfassern der Beiträge, sondern vor allem dem Verlag anzulasten ist, stellt die offenkundig gänzlich unterlassene Lektorierung bzw. Redigierung der abgedruckten Texte dar. Unzählige Fehler (Orthographie, Interpunktion, Worttrennung, Schreibweise von Namen und Fachbegriffen, Grammatik und Syntax) beeinträchtigen immer wieder deutlich die Lesbarkeit des Bandes.

Tobias Grill, München

Zitierweise: Tobias Grill über: Heinz-Dietrich Löwe (Hrsg.) Volksaufstände in Rußland. Von der Zeit der Wirren bis zur „Grünen Revolution“ gegen die Sowjetherrschaft. Wiesbaden 2006. = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 65. ISBN: 3-447-05292-9, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Grill_Loewe_Volksaufstaende_in_Russland.html (Datum des Seitenbesuchs)