Marlies Bilz Hovevei Zion in der Ära Leo Pinsker. Lit Verlag Berlin [usw.] 2007. 138 S. = Ost­europa. Geschichte, Wirtschaft, Politik, 42. ISBN: 978-3-8258-0355-1.

Im Zentrum der Arbeit stehen, wie schon der Titel der Publikation deutlich macht, „Hovevei Zion“ (die Zionsliebenden) in der Zeit, als der Odessaer Arzt Leon Pinsker, der 1882 anonym die Schrift „Autoemancipation“ veröffentlicht hatte, diese Organisation als Vorsitzender leitete. Dabei stellt sich die Autorin die Frage, ob die „Hovevei Zion“ dazu beitrugen, den politischen Status, das sozioökonomische Profil und das Selbstverständnis der russländischen Juden zu transformieren, und daher als zionistische Or­ganisation zu werten sei. Oder aber waren die Zionsliebenden nur „ein ziemlich erfolglos agie­render loser Zusammenschluß philanthropisch gesinnter Juden […], die ihr Ziel verfehlten, eine Massenauswanderung nach Palästina zu bewirken“ (S. 10)? So laut Bilz die angeblich grosso modo übereinstimmende Meinung der Historiographie.

Der Umstand, dass die Autorin die Auseinandersetzung zwischen den säkular und den religiös orientierten Anhängern von „Hibbat“ beziehungsweise „Hovevei Zion“ weitgehend ausblendet, verstellt ihr den Blick, die Problematik dieser Organisation zu begreifen. Dass sich sowohl säkulare als auch traditionsorientierte Juden an ihr aktiv beteiligten und um die Führung rangen, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Gruppierungen durchaus unterschied­liche Konzepte und Ansichten vertraten. Während die Gedankenwelt der weltlichen Juden vom modernen Nationalismus bestimmt war, galt dies für die religiösen kaum. In einer Förderung von Kolonien in „Eretz Israel“ konnten allerdings die Interessen beider Strömungen zur Deckung gebracht werden. Für die traditionellen Juden konnte dies mit der „Mitzva Eretz Israel“, also dem religiösen Gebot der Besiedlung des Heiligen Landes, legitimiert werden; für säkulare war es ein Konzept, um den jüdischen Nationalismus beziehungsweise den Aufbau einer jüdischen Heim­stätte zu fördern. Insofern hing es vom Standpunkt des Betrachters ab, ob es sich bei „Hibbat Zion“ um eine modern-nationale oder eher um eine philanthropische Organisation handelte.

Im Übrigen hat auch Yosef Salmon in seiner herausragenden Studie „Religion and Zionism. First Encounters“ darauf hingewiesen, dass schon die Anhänger und Gegner von „Hibbat Zion“ seinerzeit darum rangen, wie die Organisation einzuordnen sei: Als Wiedergeburt der Tra­dition oder als eine moderne nationalorientierte Bewegung. Da die Autorin sowohl dieses Werk als auch den 1998 von Shmuel Almog und Jehuda Rein­harz herausgegebenen Sammelband „Zionism and Religion nicht rezipiert hat, sind ihr wichtige Forschungsergebnisse in der Auseinandersetzung zwischen traditionsorientierten und aufgeklärten Juden innerhalb „Hovevei Zion“ verborgen geblieben.

Grundsätzlich ist der Ansicht der Autorin entschieden zu widersprechen, es habe sich in der Historiographie die „Meinung“ durchgesetzt, „‚Hovevei Zion‘ sei als weitgehend philanthropische Angelegenheit zu werten, in ihren Zielen gescheitert und für die Herausbildung des Zionismus von marginaler Bedeutung“ (S. 18). Eine solche Behauptung verkennt den Forschungs­stand und ist nur damit zu erklären, dass die Autorin eine solche Umdeutung benötigte, um auf diesem Wege zu einem vermeintlich neuen Ergebnis zu kommen. Besonders deutlich wird dies, wenn sie David Vital die Schluss­folgerung unterstellt, „der eigentliche Zionismus habe erst mit dem Auftreten Theodor Herzls begonnen“ und bei „Hovevei Zion“ sei „kein Hinweis auf politisches Handeln festzustellen“ (S. 19). Entgegen der Behauptung von Bilz verweist Vital an selber Stelle auf die Bedeutung der „Zionsliebenden“ mit folgenden Worten: „The period of Hibbat Zion is thus the crucial, indispensable period and the character and importance of Hibbat Zion the keys to the understanding of all that followed.“ (Vital The origins of Zionism, 1975, S. 153) Wie die Autorin angesichts dieses Zitats Vital eine gegensätzliche Behauptung unterstellen kann, bleibt ihr Geheimnis.

Es sollte im Übrigen nicht außer Acht gelassen werden, dass das zweifellos stark philanthro­pisch ausgerichtete Wirken von „Hibbat Zion“ durch die zarischen Restriktionen bedingt war. Eine offen nationaljüdische Politik zu betreiben, war in dieser Zeit nicht möglich. Nicht zuletzt deshalb wurden die politischen Ziele durch eine philanthropische Orientierung getarnt.

Völlig unhaltbar ist zudem die Behauptung der Autorin, dass es für die „Akteure von ‚Hovevei Zion‘ nie einen Zweifel“ gegeben habe, dass ein jüdisches „Gemeinwesen nur in Palästina liegen könne“ (S. 113). Man müsste nur Vitals bereits zitiertes Werk „The Origins of Zionism“ gelesen haben, um zu wissen, dass zunächst gerade für Pinsker in erster Linie die Erlangung eines eigenen Territoriums für die Juden im Vordergrund stand, was aber keineswegs notwendigerweise Eretz Israel, also das Heilige Land, sein musste.

Bedauerlicherweise ist es Bilz nicht gelungen, unsere Kenntnisse zu „Hovevei Zion“ zu er­weitern. Aufgrund unzähliger Fehler (in Orthogra­phie, Interpunktion, Grammatik, Syntax, Trans­literation, grundlegenden Techniken des wissenschaftlichen Arbeitens u.a.) hätte man dem Buch überdies einen gewissenhaften Lektor gewünscht.

Tobias Grill, München

Zitierweise: Tobias Grill über: Marlies Bilz Hovevei Zion in der Ära Leo Pinsker. Lit Verlag Berlin [usw.] 2007. = Osteuropa. Geschichte, Wirtschaft, Politik, 42. ISBN: 978-3-8258-0355-1, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 293: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Grill_Bilz_Hovevei_Zion.html (Datum des Seitenbesuchs)