Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 276-279

Verfasst von: Frank Grelka

 

Ukrainskie nacionalističeskie organizacii v gody Vtoroj mirovoj vojny. Dokumenty. V dvuch tomach [Ukrainische nationalistische Organisationen während des Zweiten Weltkriegs. Dokumente. In zwei Bänden].

Tom 1: 19391943. Sostaviteli: T. V. Carevskaja-Djakina (otv. sost.) / N. N. Vojakina / L. N. Dobrochotov i dr. Moskva: Rosspėn, 2012.  878 S., Abb. ISBN: 978-5-8243-1676-6.

Tom 2: 19441945. Sostaviteli: T. V. Carevskaja-Djakina (otv. sost.) / N. N. Vojakina / L. N. Dobrochotov i dr.. Moskva: Rosspėn, 2012.  1167 S., Abb. ISBN: 978-5-8243-1677-3.

Für Feinde der nationalistischen Ukrainer waren diese nur Schergen und Kollaborateure des deutschen Nationalsozialismus, für deren Anhänger nur Unabhängigkeitskämpfer, Zwangsarbeiter und NS-Verfolgte. Zuzugeben, dass beides zeitnah bis gleichzeitig möglich war, widerstrebt häufig einem bipolare Ordnungen bevorzugenden interpretativen Denken, gibt Frank Golczewski im ersten Band von Deutsche und Ukrainer 19141939 aus dem Jahr 2010 zu bedenken. In der öffentlichkeitswirksamen Debatte über die Rolle der Organisation der Ukrainischen Nationalisten (OUN) und ihres bewaffnetes Arms (Ukrainische AufstandsarmeeUPA) zwischen Verrat am Vaterland und heroischem Unabhängigkeitskampf für ein postimperiales Nationalbewusstsein der Ukrainer hielt sich die russische Geschichtspolitik bisher betont zurück. Angeführt von Andrej Artisov, dem Leiter der russischen Archivverwaltung, hat nun ein Kollektiv von Autoren beträchtlichen Aufwand betrieben, um für einvollständigeres und objektiveres Bild der Ereignisse(S. 5) deutsche, polnische, sowjetische und ukrainische Dokumente zu edieren.

Nach Angaben der Herausgeber werden 400 der 505 Dokumente aus 15 russischen, ukrainischen, polnischen und deutschen Hauptstadtarchiven erstmals publiziert (S. 26). Es handelt sich dabei um Unterlagen ziviler deutscher und polnischer Behörden, Quellen von verschiedenen Kommandoebenen der polnischen Armee und des Geheimdienstes, der Wehrmacht, des Reichssicherheitshauptamtes, des NKWD, der OUN und UPA, des ukrainischen Partisanenstabes sowie aus zentralen und regionalen Parteistellen der NSDAP und des ZK der KP der UdSSR. Die Dokumente sind strikt chronologisch, in drei Zeitperioden (1939 22. Juni 1941, 23. Juni 1941 1943, 19441945) unterteilt angeordnet. Die ukrainischen, polnischen und deutschen Dokumente wurden allesamt ins Russische übersetzt. Zeitgenössische Fotodokumente illustrieren positive Reaktionen der ukrainischen Bevölkerung auf den Einmarsch von Roter Armee und Wehrmacht 1939 bzw. 1941. Daneben lockern antisowjetische Flugblätter der OUN-UPA, Bilder von ukrainischen Freiwilligen der SS-Division Galizien, Schaubilder der OUN-Struktur aus der Hand staatlicher sowjetischer Sicherheitsorgane sowie Porträts ukrainischer Nationalistenführer die mehr als 2000 Druckseiten auf. Ein Personen- und geographischer Index erleichtert die Nutzung. Das ansonsten nützliche Verzeichnis am Ende beider Bände kommt ohne eine Datierung der Dokumente aus. Die Endnoten erschweren die Lektüre nicht unerheblich. Ohne klare Auswahlkriterien (neben anderen fehlt etwa auch Hans Koch, nachmals Direktor des Osteuropa-Instituts München, der als Offizier der Abwehr deutsche Besatzungsbehörden ukrainepolitisch beriet; siehe Bd. 1, S. 368) ist der Nutzen des biographischen Anhangs am Ende von Band 2zumal ohne Rückverweise auf die diese Personen betreffenden Dokumenteeingeschränkt. Nichtsdestoweniger wird eine in ihrer Quantität präzedenzlose Kompilation zur Geschichte des ukrainischen Nationalismus im Zweiten Weltkrieg vorgelegt. Wer sich jedoch die überaus ehrgeizige Aufgabe stellt, verschiedene Quellenarten und dazu unterschiedlicher Provenienz für die Geschichte des ukrainischen Nationalismus im Zweiten Weltkrieg sprechen zu lassen, steht vor nicht banalen redaktionellen, editorischen, konzeptionellen, methodischen und inhaltlichen Herausforderungen. Vor dem Hintergrund, dass der Verlag Rosspėn in der jüngeren Vergangenheit nicht zuletzt Ergebnisse deutsch-russischer Historikerkommissionen zur Geschichte des Stalinismus verdienstvoll auflegte (etwa zur Geschichte der SMAD unter Beteiligung von Tatjana Viktorovna Carevskaja-Djakina, der verantwortlichen Redakteurin auch dieser Bände), ist der redaktionelle Zustand des vorliegenden Bandes erstaunlich. Das betrifft sowohl das Lektorat, etwa bei der fehlerhaften Bezeichnung deutscher Archive oder polnischer Armeeeinheiten (Bd. 1, S. 854), als auch unvollständige oder inkorrekte Geburtsdaten historischer Persönlichkeiten im biographischen Anhang (z.B. Reichskommissar Erich Koch, Bd. 2, S. 1041). Fragwürdig ist zudem, warum aus dem Kopf mancher Dokumente zwar der Geheimhaltungsgrad übernommen wurde, die Tagebuchnummern aber vereinzelt fehlen. Zwar verweisen die Autoren auf ukrainischsprachige Paralleleditionen, ein Überblick über die zahllosen internationalen Publikationen zum Thema wird dadurch aber natürlich nicht obsolet. So drängt sich der Eindruck einer inkonsistenten Dokumentensammlung auch inhaltlich auf.

 Das beginnt bereits mit dem Titel: Ukrainische Nationalistische Organisationen im Zweiten Weltkrieg. Es entspricht nicht dem Forschungsstand, eine weltanschauliche und in ihren Methoden inkohärente Nationalbewegung mit einer monolithischen Organisation antisowjetischer Ausrichtung zu identifizieren. Schnell wird so deutlich, dass es den Verfassern allein um die OUN und deren bewaffneten Arm, die UPA, geht. Deren Taktik vor allem im Hinblick auf ihre Partnerschaft mit den Nationalsozialisten, die Beteiligung der Nationalisten an bewaffneten Formationen und ihr bewaffneter Kampf gegen die Rote Armee sollenso die Verfasserbelegt werden (S. 5). Nach eingeübtem Muster wird eineBewegung ukrainischer Nationalistenaus ehemaligen Kadern der ukrainischen Armeen des Ersten Weltkriegs als ein Juniorpartner deutscher Weltmachtspläne im Krieg gegen die Sowjetunion skizziert. Die reine Masse an Quellen verschiedener Provenienz soll zwar Multiperspektivität auf die Rolle der ukrainischen Bewegung suggerieren, doch ohne eine Zeittafel, ein Glossar, einen systematischen Dokumentenindex oder ein Register der Einheiten, Institutionen oder Organisationen verliert der Leser schlicht die Orientierung, zumal diffizile Quellentypen wie Verhörprotokolle, Propagandadokumente, Kriegsfotografien, Erinnerungsberichte, Beutedokumente (statt einer Neuübersetzung deutscher Originale wurde, sofern in den Akten vorhanden, auf Übersetzungen sowjetischer Behörden zurückgegriffen) oder Unterlagen aus dem politischen Untergrund (etwa der polnischen Heimatarmee) ohne einen Ansatz von Quellenkritik dargeboten werden. Um den Rahmen dieser Rezension nicht zu sprengen, nur ein einziges Beispiel: Ab Seite 396 des ersten Bandes folgt auf einen Bericht der Politischen Abteilung 31 des Schützenkorpus Nr. 32 über die Aktivität der Banden ukrainischer Nationalisten im Gebiet von Volodarsk-Volynsk, adressiert u.a. an den Leiter der Obersten Politischen Verwaltung der Roten Armee, dieEreignismeldung UdSSR Nr. 44an den Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD zuso die Titulierungden Kontakten zwischen der OUN und Generalgouverneur Hans Frank. Quellen unterschiedlicher Provenienz werden hier scheinbar zufällig aneinandergereiht. Für den Leser ist dieses Prinzip nicht durchschaubar, zumal Berichte von lokalen Kommandostäben auf sowjetischer Seite unvergleichbar besser erhalten sind als die weitgehend zerstörten Berichte der Gruppenstäbe und der Einsatzkommandos. Während also dieEreignismeldungen“ das Produkt einer Redaktion verschiedener Berichte aus dem Gebiet nach Berlin sind, letztlich also die Perspektive des Gestapo-Chefs Heinrich Müller und Heinrich Himmlers abbilden, sind Quellen aus sowjetischen Archiven von wesentlich unmittelbarer Qualität. Schließlich sind Primärquellen für die OUN und die UPA wegen der eingeschränkten Schriftlichkeit einer Untergrundorganisation schon ihrer Anzahl nach sehr limitiert. Wenn die Herausgeber trotz dieser divergenten Überlieferungstraditionen Täterdokumente deutscher, sowjetischer und ukrainischer Provenienz parallel anordnen, dann erzeugen sie eine Kausalität, in der die Exzesse der OUN und UPA unwillkürlich auf eine Stufe mit den staatlichen Massenverbrechen der SS und des NKWD gestellt werden.

 Es ist dennoch kein Widerspruch zu behaupten, dass diese Edition zwischen den Zeilen auch als Schwarzbuch sowjetischer Repressionen gegen die westukrainische Gesellschaft im und nach dem Zweiten Weltkrieg gelesen werden kann. Elena Jurevna Borisenok kommt in der Einleitung nicht umhin, auf die Gründung der Hauptverwaltung für den Kampf gegen das Banditentum beim NKWD im Dezember 1944 zu verweisen. Da der Zugang zu zahlreichen Staatsarchiven der Russischen Föderation für die öffentliche Forschung nicht unkompliziert ist und die Wissenschaft bisher auf einen Teil der sowjetischen Dokumente zum ukrainischen Nationalismus im Zweiten Weltkrieg verzichten musste, sind unter diesem Aspekt deklassifizierte Unterlagen aus dem Archiv des Sicherheitsdienstes, dem Archiv der Inneren Aufklärung sowie dem Präsidentenarchiv die Kleinode dieser Ausgabe. Darunter befinden sich regelmäßige Berichte Chruschtschows als Sekretär des Zentralkomitees der KP in der Ukraine an Stalin über dieLiquidierung der OUN-UPA-Formationen in den westlichen oblasti(Dok. 3.188). Diese von der sowjetischen Führungsebene verfassten Rapporte sind eine wertvolle Ergänzung der Bilas-Edition von 1994 zur Wiederaufnahme der 1939 bis 1941 begonnenen sowjetischen Umgestaltung der gesamten westukrainischen Gesellschaft (u.a. durch Massenansiedlung von Parteiaktivisten aus östlichen oblasti) und bestätigen BilasDiagnose über die Fortführung der Liquidierung sämtlicher Strukturen der OUN-UPA, nachdem bereits von April bis Juni 1941 rund 20.000 sogenannte Sympathisanten der OUN deportiert und einige tausend OUN-Anhänger in NKWD-Gefängnissen ermordet worden waren. So wurden laut diesen Quellen in den Jahren 1944 bis 1953 rund 150.000 ihrer Anhänger getötet sowie rund 200.000 von in Sippenhaft genommenen Familienmitgliedern aus Galizien und Wolhynien deportiert. Trotz dieser Schlüsseldokumente bleibt eine Analyse der lokalen Verfolgung des national­ukrainischen Untergrundes auf der Grundlage der Hinterlassenschaften kommunistischer Gebiets- und Kreisorganisationen ein Desiderat der Forschung. In ehemaligen Parteiarchiven in Ternopil, Rivne, Ivano-Frankivsk oder Lviv sind solche Dokumente in großer Anzahl ebenfalls vorhanden und für interessierte Forscher mutmaßlich leichter zugänglich als in Moskau. NKWD-Skizzen von Unterschlüpfen der OUN-Kämpfer im Anhang von Band 1 erinnern stark an die Aufmachung von Fotografien jüdischer Verstecke im Katzmann-Bericht zur Lösung der Judenfrage im Distrikt Galizien. Begrüßenswert ist, dass OUN-Historiker anhand von Berichten aus sowjetischer Sicht u.a. die Situation in der Region Chełm im Frühjahr 1944 (Dok. 3.52) oder polnisch-ukrainische Verhandlungen im November 1944 (Dok. 3.110) neu bewerten können. Die Aktionen der UPAso die Autorenseien mit unerbittlicher Härte durchgeführt worden, so dass es als Reaktion darauf zu 522 Fällen von Rechtsüberschreitungen seitens sowjetischer Beamter gekommen sein (S. 23). Bei solcher Argumentation klingt es exkulpierend, wenn dievon Geoffrey Burds als besonders brutal beschriebeneSowjetisierung der ehemaligen polnischen Ostgebiete im Hinblick auf die Verfolgung der ukrainischen Nationalbewegung als eineReihe erfolgreicher Operationen gegen Einheiten der ukrainischen Nationalisten(S. 24) beschrieben wird. Es ist außerdem methodisch höchst fragwürdig, wenn zurBeleuchtung von diesen oder jenen Ereignissendrei thematische Blöcke ausgewählt werden (S. 27), die rund zwei Prozent der hier vorliegenden Quellen ausmachen und allesamt ausgerechnet die Zusammenarbeit von OUN und UPA mit Wehrmacht und SS in den Jahren 1941 bzw. 1944 belegen sollen. Die dieser Zusammenarbeit zugrundeliegenden Verhandlungen sind im Übrigen seit vielen Jahren im Zentralen Staatsarchiv der Obersten Machtorgane der Ukraine in Kiew nachzulesen. Mordaktionen der OUN und der UPA folgten auf diese militärische Kooperation während des deutschen Vor- und Rückmarsches nach und aus Ostpolen. Diese Gewaltexzesse gegen die jüdische und polnische Zivilbevölkerung Ostgaliziens und Wolhyniens subsumieren die Autoren noch im 74. Jahr nach Beginn des Zweiten Weltkriegs alsRepression gegen die friedliche Bevölkerung(Einleitung, S. 5).

Nicht nur im Hinblick auf die genannten editorischen Ungereimtheiten liegt ein Sammelsurium historisch hochsensibler Quellen für eine russischsprachige Öffentlichkeit vor, das bestenfalls als Fundgrube für zukünftige Forschungen in russischen Staatsarchiven zur sowjetischen Kriegführung an der westukrainischen Front taugt. Alternativ zu dem besprochenen Zweibänder, der im Juni 2012 in Moskau erschien, sei deshalb der Rückgriff auf die von Bilas (Represywno-karatelna systema v Ukrajini 19171953. Kyjiv 1994), Danylenko und Kokin (Radjanski Orhany Deržavnoji Bezpeki u 1939červni 1941 g. Dokumenty GDA SB Ukrajiny. Kyjiv 2009) sowie Mallmann, Angrick, Mattäus und Cüppers (Ereignismeldungen UdSSR1941. Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion. Darmstadt 2011) herausgegebenen Quelleneditionen empfohlen. Diese relativieren die vorgelegte Anzahl angeblichneu publizierterDokumente ganz erheblichso stellt das im hier rezensierten Werk abgedruckte Dokument 2.160 eine Quelle dar, die, ohne dass darauf verwiesen wird, bereits von Bilas publiziert wurde. Gleichzeitig lässt jedoch eine brauchbare Dokumentensammlung zur OUN und UPA im Zweiten Weltkrieg weiterhin auf sich warten.Honi soit qui mal y pense, wenn die anfangs zitierten Pole dieser Publikation die Schergen und Kollaborateure des deutschen Nationalsozialismus einerseits und die sowjetischer Sicherheitsorgane in ihrem Kampf gegen diedeutsch-faschistischen ukrainischen Nationalistenandererseits sind.

Frank Grelka, Frankfurt/Oder

Zitierweise: Frank Grelka über: Ukrainskie nacionalističeskie organizacii v gody Vtoroj mirovoj vojny. Dokumenty. V dvuch tomach [Ukrainische nationalistische Organisationen während des Zweiten Weltkriegs. Dokumente. In zwei Bänden]. Tom 1: 1939–1943. Sostaviteli: T. V. Carevskaja-Djakina (otv. sost.) / N. N. Vojakina / L. N. Dobrochotov i dr. Moskva: Rosspėn, 2012. 878 S., Abb. ISBN: 978-5-8243-1676-6. Tom 2: 1944–1945. Sostaviteli: T. V. Carevskaja-Djakina (otv. sost.) / N. N. Vojakina / L. N. Dobrochotov i dr.. Moskva: Rosspėn, 2012. 1167 S., Abb. ISBN: 978-5-8243-1677-3., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Grelka_SR_Carevskaja-Djakina_Ukrainskie_nacionalisticeskie_organizacii_1-2.html (Datum des Seitenbesuchs)

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