Ray Brandon, Wendy Lower (eds.) The Shoah in Ukraine. History, Testimony, Memorialization. Indiana University Press Bloomington, Indianapolis, IN 2008. IX, 378 S., Ktn., Abb., Tab. ISBN: 978-0-253-35084-8.

Der Mord an der jüdischen Bevölkerung auf dem Territorium der heutigen Ukraine während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg ist vergleichsweise wenig erforscht. Insofern stehen die Holocaust Studies und das weiterhin vorherrschende Bild des Holocaust als gleichsam anonymer und industrieller Prozess auf dem Prüfstand.

Paradoxerweise ist in den Jahren 1945 bis 1990 in der Sowjetukraine, also am Schauplatz selbst, nicht wissenschaftlich zum Thema publiziert worden, und unter den Autoren des Sammelbandes ist Alexander Kruglov von der Nationalen Universität für Radioelektronik in Char­kiv der einzige Forscher aus der Ukraine. Ohne auf die Rolle der Ukrainer im Holocaust einzugehen, präsentiert Kruglov dennoch eine innovative Zusammenstellung von Zahlen jüdischer Opfer über die gesamte Zeit der deutschen Besatzungsherrschaft. Die Ergebnisse sind überraschend, nicht im Hinblick auf ihr Ausmaß, aber bezüglich der topographischen und chronologischen Struktur des Mordes an den ukrainischen Juden. Kruglov kann nach einer konsequenten Analyse sowjetischer behördlicher und gerichtlicher Quellen aus Geheimdienstarchiven behaupten, dass 60 % der jüdischen Vorkriegspopulation während der deutschen Besatzung in der Nähe ihrer Häuser ermordet wurden, nur 22 % seien bevorzugt in das Vernichtungslager Bełżec deportiert worden. Mit 98 % der Vorkriegsbevölkerung sei die Zahl der Opfer in Ternopil’ am höchsten gewesen, während in der Ostukraine eine relativ hohe Anzahl – Charkiv (90 %), Odes­sa (60 %) – der jüdischen Bewohner durch die Evakuierung bzw. wegen der rumänischen Verwaltung Transnistriens überlebte. Zwischen den Zeilen dieses Beitrags wird deutlich, dass sich in der Ukraine Opfer und Täter viel direkter begegneten und der Massenmord hier aus einer Fülle von grausamen Erschie­ßungsaktionen, brutaler Folter und todbringender Zwangs­arbeit sowie Hunger und exzessiven Misshandlungen bestand. Etwas beiläufig benennt Kruglov „ideologische Ähnlichkeiten“ vieler Ukrainer mit den Deutschen als einen Grund für die prozentuell weit höhere Opferzahl im Vergleich der West- mit der Ostukraine.

Dieter Pohl vom Institut für Zeitgeschichte bietet einen Überblick über die Judenpolitik in der Verantwortung von Militär- und Zivilverwaltung. Pohl rekonstruiert die Zusammenarbeit von Wehrmacht, Verwaltung und Polizeistellen im Holocaust und referiert über die Verwischung von Spuren wie beispielsweise Massengräbern, über die Kenntnis sowjetischer Stellen von der Judenvernichtung seit Ende 1942 sowie über die Rolle lokaler ukrainischer Polizeiwachen. Im Reichskommissariat Ukraine hätten Ukrainer dabei bis auf das Niveau der Bezirksverwaltungen eine entscheidende Rolle beim Judenmord gespielt. Aus der Perspektive der ukrainischen Mehrheitsbevölkerung beschreibt Timothy Snyder von der Yale University zwischenethnische Beziehungen in Ostpolen. Snyder demonstriert, wie die Warschauer Nationalitätenpolitik den Boden für die Gewaltexplosion im Generalkommissariat Wolhynien-Podolien bereitet hatte. Die deutsche Innenpolitik war für die Ukrainer attraktiver als die polnische und danach die sowjetische, denn in Religion, Wirtschaft und kulturellen Angelegenheiten wurden sie gegenüber Polen und Juden bevorzugt. In dem Maße, wie die ukrainische Gesellschaft von der Besatzungsmacht unterstützt wurde, habe sie die deutsche Politik gegenüber ihren jüdischen Nachbarn gutgeheißen. Frank Golczewski polemisiert gegen das Bild von den „ukrainischen Henkersknechten“, das sich stereotypisch durch die westliche Forschungsliteratur zieht. Dass die Mitglieder der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) in deutschen Formationen am Judenmord teilnahmen, sei nicht auf ihren Antisemitismus zurückzuführen, sondern der autoritären Ideologie der OUN selbst und einer traditionell prodeutschen Haltung der galizischen Ukrainer als Erbe der Habsburgerzeit zu danken. Der Hamburger Osteuropahistoriker referiert seine bereits anderenorts publizierten Thesen über die Instrumentalisierung ukrainischer nationaler Ambitionen in der Holocaustdiskussion und warnt abschließend vor einer Stigmatisierung einer ganzen Nation durch die Historiographie.

Neben der verbreiteten Zusammenarbeit lokaler Gemeinden gab es bekanntlich auch eine zwischenstaatliche Kollaboration im Holocaust. Dennis Deletant, Historiker in London, diskutiert die Eigeninitiative von Ministerpräsident Ion Antonescu, der in Bukarest eine Politik der ethnischen Säuberung für Rumänien plante. Der Verfasser kann überzeugend zeigen, dass gerade in den Jahren 1941 und 1942 der rumänische Beitrag zur Shoah mit der Judenpolitik Berlins harmonierte, als rund 250.000 Juden und Roma, besonders aus den neu annektierten Gebieten (Bu­kowina und Bessarabien), in die Todeslager Transnistriens verschleppt worden seien. Andererseits habe sich Antonescu geweigert, Juden aus der Walachei, Moldau und Südtranssilvanien in die Vernichtungslager zu deportieren. „The unrelenting destruction of Jewish life […] had priority over all economic considerations, even those of the SS“ (S. 206–207), bilanziert Andrej Angrick den Bau der „Durchgangsstraße IV“, das größte Zwangsarbeiterprojekt der SS in der Ukraine, das den Versorgungsweg der Wehrmacht bis in den Kaukasus ebnen sollte. Noch anschaulicher wird das System der jüdischen Arbeitslager entlang der DG IV durch eine Reihe von thematischen Karten zu Chronologie und Topographie des Holocausts in der Ukraine, mit denen Herausgeber Ray Brandon dem Leser ein hervorragendes didaktisches Hilfsmittel an die Hand gibt. Mitherausgeberin Wendy Lower setzt die Reihe der Beiträge aus der Täterperspektive fort und analysiert die nationalsozialistische Kolonialpolitik am Beispiel der Region Žytomyr. Mar­tin Dean schließt hier an und untersucht die Rolle der deutschen Minderheit in der besetzten Sowjetukraine. Der Historiker vom U.S. Holocaust Museum problematisiert die doppelte Op­ferrolle der Volksdeutschen als Ziel stalinistischer Deportationsmaßnahmen vor und während des Krieges. Auf der Grundlage von Akten aus ukrainischen Archiven verdeutlicht Dean aber auch, dass die autochthone deutsche Bevölkerung regional eine Korsettstange der Vernichtungspolitik war. In den abschließenden Bei­trägen von Karel Berkhoff und Omer Bar­tov wird die Erinnerung an den Holocaust in der Sowjetunion und der unabhängigen Ukraine thematisiert. Wie schon in seiner Dissertation von 2004 argumentiert Berkhoff aus der Perspektive der einheimischen Bevölkerung, hier am Beispiel der Erinnerungen von Dina Pronicheva, die Babi Jar überlebte. Berkhoff hinterfragt die Verwendung von Zeitzeugenberichten im Kontext politischer Vereinnahmung, reflektiert dazu auf der Grundlage von publizierten NKWD-Zeugenbefragungen aufschlussreich über die Topographie des Holocaust am Beispiel der Schlucht bei Kiew. Omer Bartov vertieft die Problematik der ambivalenten Beziehung der modernen Ukraine zum Holocaust und entdeckt Osteuropa als lieu de mémoire und Kernland der Shoah für die Zeitgeschichtsforschung neu. Während die bisherigen Beiträge alte Täter- und Opfermuster auf der Grundlage mehr oder weniger bekannter Quellen durchspie­len, sammelt Bartov übriggebliebene Sach- und Textzeugnisse der Vorkriegszivilisation im Spiegel einer jahrhundertelangen konfliktgepräg­ten Koexistenz. Zivilisationspessimistisch be­züglich eines indifferenten und von antijüdischen Reflexen geprägten westukrainischen Erinnerungsparadigmas setzt Bartov selbst auf Zeu­genaussagen jeglicher ethnischer Provenienz, auf der Seite der Täter und der Opfer.

History, testimony and memorialization im Kontext der Ermordung von mindestens 1,6 Millionen Juden in der Ukraine – der Untertitel des Bandes ist auch ein Plädoyer für eine moderne Konfliktarchäologie zum Holocaust. Als elementarer Bestandteil der Geschichte Osteuropas, d.h. der Erforschung des Makrokosmos der Täter im Mikroskop regionaler Kulturen, Sprachen, Traditionen und Innenpolitiken an den Tatorten, werden Holocaust Studies eine Zukunft haben.

Frank Grelka, Frankfurt/Oder

Zitierweise: Frank Grelka über: Ray Brandon, Wendy Lower (eds.): The Shoah in Ukraine. History, Testimony, Memorialization. Indiana University Press Bloomington, Indianapolis, IN 2008. ISBN: 978-0-253-35084-8, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 1, S. 125-127: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Grelka_Brandon_The_Shoa_in_Ukraine.html (Datum des Seitenbesuchs)