Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 4, S. 660-662

Verfasst von: Frank Golczewski

 

Marcin Zaremba: Die große Angst. Polen 1944–1947: Leben im Ausnahmezustand. Übersetzt von Sandra Ewers. Paderborn: Schöningh, 2016. 629 S., 35 Abb. ISBN: 978-3-506-78093-5.

Der vorliegende Band knüpft an einen Strang der historischen Literatur an, der es in einer Mischung aus soziologischen, psychologischen und historischen Ansätzen unternimmt, die conditio humana in bestimmten situativen Szenarien zu analysieren. Wo aber mit einem ähnlichen Ansatz Jean Delumeau (La peur en occident. Paris 1978) einen breiten Bogen vom 14. bis zum 18. Jahrhundert spannt und Jan Tomasz Gross (Strach. Kraków 2008) nur das polnisch-jüdische Verhältnis thematisiert, versucht der Warschauer Historiker Marcin Zaremba, der sein Handwerk bei dem Sozialhistoriker Marcin Kula erlernt hat, die gesamte unmittelbare Folgezeit des Zweiten Weltkriegs in Polen – mit Abstechern in beiden zeitlichen Richtungen – unter der Überschrift einer alles beherrschenden „Angst“ zu erklären.

Dabei geht in der Übersetzung dieses Begriffs einiges verquer. Eigentlich ist sie problematisch, denn im Deutschen bezieht sich dieses Substantiv auf etwas Konkretes („Angst vor etwas“), während „Furcht“ unkonkreter ist und eher der „Nebulosität und Unbestimmtheit“ (S. 39) entspricht, die Zaremba mit der polnischen trwoga meint.  Dabei erweist sich die Übersetzung jedoch im weiteren als durchaus treffend, denn was Zaremba dann entfaltet, ist keineswegs ein Szenario zwischen Angst und Hoffnung (wie es Delumeau entwirft), sondern eine finstere Landschaft, in der allein die negativen, durchaus konkreten Aspekte eine scheinbare Omnipräsenz besitzen. Als entscheidenden Auslöser benennt der Verfasser die enthemmenden Kriegstraumata, die mit ihrer Einübung der Allgegenwart des Todes und einem Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts eine Nachkriegsgesellschaft gestalteten, in der die bisherigen moralischen Gerüste und sozialen Hierarchien nicht mehr bestanden. Die Gebildeten waren ermordet oder vertrieben, Alkoholismus, Aggression, der Aufstieg von völlig Ungebildeten in Machtpositionen (Rolle der Miliz), der Ersatz von Moral durch nationale Bindung prägten sie; folgerichtig blicken wir auf ein  Pandämonium von alles beherrschenden Phobien.

Nach dieser Exposition folgen zwei Darstellungsblöcke: im ersten wird das Personal der Nachkriegszeit diskutiert, im zweiten die Umsetzung der neuen gesellschaftlichen Situation auf verschiedenen Feldern.

Dass die Rote Armee Polen weitgehend als Feindesland betrachtete und sich auch häufig dementsprechend verhielt, wundert schon deshalb nicht, weil sie – anders als in Deutschland – mit einem feindlichen Untergrund konfrontiert war, so dass die Zivilbevölkerung dazwischen die Beschaffungs- und Vergewaltigungsaktionen beider Seiten ähnlich zu fürchten hatte wie einfache alkoholbedingte Gewalttaten einer brutalisierten Männergesellschaft. Das große Verdienst dieses Buches besteht darin, dass Zaremba entgegen dem üblichen Narrativ auch die polnische Gesellschaft als eine Ansammlung deklassierter und demoralisierter Menschen sieht, die ebenso selber angstgetrieben waren wie sie andere mit Angst erfüllten. Einerseits schildert er die „Menschen aus Heeresbeständen“, eine schöne Übersetzung der „ludzie z demobilu“, Deserteure, Invaliden, Bettler, Spekulanten; aber am markantesten sind hier die neuen Milizionäre ausgewiesen – neu als Obrigkeit, häufig bar jeder Bildung und jeden moralischen Halts. Abgeleitet wird aus diesem Verfall eine Selbstverständlichkeit des Plünderns (szaber), die in ein allgemeines Banditentum mündet, in dem die tatsächlichen oder scheinbaren Angehörigen des nunmehr allein gelassenen Untergrunds eine wichtige Rolle spielen. Die Übersetzerin schreibt hier (und das ist nicht als Kritik zu verstehen, sondern als ausdrückliches Lob für diese Wortwahl, die im Deutschen kaum anders möglich wäre) von „verkommenen“ Soldaten – im Original ist von „upadli żołnierze“ die Rede: also „gefallenen“ Soldaten (im Sinne von „gefallene Engel“). Zaremba setzt damit einen wichtigen entmythologisierenden Akzent gegen die Sakralisierung der „verfemten Soldaten“ (żołnierze wyklęci) des antikommunistischen Untergrunds, die in den letzten Jahren in Polen unglücklicherweise um sich gegriffen hat.

Dass dieses Personal die Polen verunsicherte, wird in den folgenden Abschnitten erläutert: So wenig wie man sich vorstellen konnte, wie der Staat Polen werden, wo er liegen würde, trugen die Angst vor einem neuen Krieg, vor der Rückkehr der Deutschen, improvisierte Währungsmaßnahmen, allgemeines Chaos, Versorgungsmängel, Krankheiten, Spekulation zur Destabilisierung bei, die sich – damit schließt dann das Buch – in ethnisierter Gewalt abreagierte. Deutsche, Ukrainer, Weißrussen und Juden als Opfer – interessanterweise ist zu den letzteren inzwischen erheblich mehr publiziert worden als zu den ersteren. Die Wiederbelebung der nationalen Kategorie machte es leicht, gegen „Fremde“ zu sein. Damit ist Zarembas Diagnose, dass zu den tatsächlichen oder verhinderten Pogromen regressive Motive – wie der Ritualmordvorwurf – neben den konkreten materiellen Befürchtungen – wie den Rückgabeforderungen – beigetragen haben, nicht mehr so neu; auch die Beteiligung der Miliz und andere Faktoren sind aus anderen Literaturpositionen bekannt. Zaremba betont jedoch das Alter, die Dämonie und die Funktion der antisemitischen Motive (S. 448). Für ihn legitimierten sie Gewalt und waren damit eine Auswirkung der Angst.

Die Darstellung der antijüdischen Gewalt im Kontext der übrigen gewaltsamen Handlungen trägt aber auch zu ihrer Historisierung bei: Die kriminelle Gewalt gegen Juden behält zwar bei Zaremba ihre Spezifik, sie wird aber in eine allgemeine Gewaltlandschaft eingestellt, wird ihr Teil und damit zu einem Aspekt des allgemeinen Befundes. Für Zaremba ist sie quantitativ zu Recht „ein […] unbedeutende[r] Bruchteil des Phänomens als Ganzes“ (S. 271).

Zarembas Horrorszenario ist dennoch nicht völlig überzeugend: Die kaleidoskopartig dargestellten Einzelereignisse, aus denen sich sein Narrativ zusammensetzt, sind wohldokumentiert – aber ist das alles gewesen? Soll es nirgendwo in Polen das Gefühl von Befreiung, Aufbruch, Aufbau gegeben haben? Die zwischen 1945 und 1950 steil ansteigende Geburtenrate verweist auf eine optimistische Note; ein kultureller Aufbruch fand statt: Beides sucht man in der „großen Angst“ vergebens. Die beeindruckende Sammlung von Einzelfällen ist auch geographisch – bedingt durch die Archivauswahl – nicht ganz ausgewogen. Überrepräsentiert sind das südöstliche Zentralpolen und das zerstörte Warschau, manche andere Gegenden kommen nur sporadisch vor. Dennoch ist das monumentale Werk höchst wertvoll: Es beleuchtet komplementär die dunkle Alltagsseite einer Zeit, in Bezug auf welche oft nur an der Politik Kritik geübt wird und die „einfachen Leute“ ungeschoren davonkommen. Viele Auslöser der „Angst“ kamen aber eben auch von weit unten.

Frank Golczewski, Hamburg

Zitierweise: Frank Golczewski über: Marcin Zaremba: Die große Angst. Polen 1944–1947: Leben im Ausnahmezustand. Übersetzt von Sandra Ewers. Paderborn: Schöningh, 2016. 629 S., 35 Abb. ISBN: 978-3-506-78093-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Golczewski_Zaremba_Die_grosse_Angst.html (Datum des Seitenbesuchs)

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