Frank Grüner Patrioten und Kosmopoliten. Juden im Sowjetstaat 1941–1953. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2008. XV, 559 S. = Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 43. ISBN: 978-3-412-14606-1.

Dies ist nicht das erste Buch über die Juden in der Sowjetunion, und insofern muss man sich schon dafür interessieren, wie es sich von seinen Vorgängern unterscheidet. Die Heidelberger Dissertation erhebt den Anspruch, nicht auf die Politik Stalins oder des sowjetischen Machtzentrums allein Wert zu legen, sondern sich der Problematik aus der Perspektive der Juden zu nähern und deren Transformation durch den Krieg und die sowjetamtliche Nicht-Traktierung der „Judenfrage“ zu beschreiben. Dieses letztlich stark wirksame Element der historischen Entwicklung sei dialektisch von der Politik einerseits verursacht worden; andererseits habe sie aber dann auch darauf reagiert.

Grüners Basisthese geht davon aus, dass – ungeachtet verbreiteter antijüdischer Einstellungen und Maßnahmen – die meisten Juden bis 1939 den sowjetischen ideologischen Vorgaben, die sich wohltuend von früheren judenfeindlichen Vorwürfen unterschieden, vertraut hätten, dann aber wegen der „freundschaftlichen“ Verbindung der Sowjetunion mit dem deutschen Nationalsozialismus und des Fehlens jeglicher Kritik an dessen ersten judenfeindlichen Maßnahmen entsetzt und verunsichert gewesen seien. Dieses Gefühl habe 1941 wieder nachgelassen, und die Schaffung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAK) habe sich auch im Inland beruhigend ausgewirkt. Nach 1945 sei dann jedoch die erwartete Normalisierung nicht eingetreten, und der in den deutsch besetzten Gebieten praktizierte, auf die Vernichtung ausgerichtete Antisemitismus sei in der UdSSR weder thematisiert worden noch seien die menschlichen und materiellen Folgen (etwa durch Rückgabe von Eigentum) auch nur ansatzweise revidiert worden.

Die Folge dieser Enttäuschung sei eine Entfremdung der sowjetischen Juden von ihrem Staat gewesen, die im Ergebnis zur Ausbildung einer eigenen jüdischen Identität und schließlich auch eines Nationalbewusstseins geführt und in der Begeisterung über die Gründung Israels 1948 ihren Kulminationspunkt erreicht habe. Diese Entwicklung wiederum habe die Sowjetführung für so unerwünscht gehalten, dass sich die antijüdische Paranoia der Hochstalinzeit mit der Ermordung des JAK-Leiters Michoels, der Fokussierung der Anti-Kosmopoliten-Kampagne gegen Juden, dem Prozess gegen die JAK-Leitung und der Verfolgung der Kreml-Ärzte daraus ohne weiteres ableiten lasse.

Dieses Szenario versucht der Verfasser sodann aus der Perspektive der Juden nachzuweisen, indem er deren schriftlichen Äußerungen in der Emigration, aber auch in Briefen an Protagonisten des Sowjetstaates und der jüdischen Kom­munität (wie Michoels und Il’ja Ėrenburg) nachgeht. Hinsichtlich der drei von ihm gewählten Themen (Verhältnis zur Geschichte, nationale Identität, Religion) gelangt er nicht unerwartet zu dem Ergebnis, dass sich das Bewusstsein für die Zugehörigkeit zu einer historischen Schicksalsgemeinschaft im Krieg und danach ebenso gesteigert habe wie das Gefühl für eine separate Identität und nationale Qualität der eigenen Gruppe. Die religiöse Komponente fällt dagegen deutlich ab, und der Autor erkennt auch hinsichtlich der religiösen Traditionen einen ausgeprägt säkularen Zugang, der sich mit der Zurücksetzung auch der jüdischen Religion grundsätzlich abzufinden bereit war. Folglich gab es kein Aufblühen des jüdischen religiösen Lebens nach 1945, aber auch keinen heftigen „Kulturkampf“ – die religiöse Situation blieb bis 1953 nach Grüners Ermittlungen weitgehend konstant.

Mit dieser Interpretation des historischen Ge­schehens leistet Grüner einen sehr wichtigen Beitrag zur Historisierung des sowjetischen Partei- und Regierungsantisemitismus: Er schreibt ihn eben nicht einer völlig unbegründeten Paranoia verrückt gewordener oder gar den Nationalsozialisten ähnlicher sowjetischer Führer zu, und er sieht in dem Identitätsbewusstsein der Juden auch keine „natürliche“ Entwicklung, sondern eine Folge der verwirrenden Kriegszeit, auf welche die Sowjetführung mit dem Versuch der radikalen Integration und mit Sprachlosigkeit reagierte. Dass die sowjetische Unterstützung Israels keine Förderung des Zionismus in der Sowjetunion bedeutete, dass man mit der jüdischen Identität schon immer ideologische Schwie­rigkeiten hatte (die sich nach einem kurzen Aufschwung um 1948 auch in der neuerlichen Beendigung des Birobidžan-Projekts äußerten), dass die Shoa nicht thematisiert wurde und der lokale Nachkriegs-Antisemitismus heruntergespielt oder ganz geleugnet wurde, entfremdete die beiden untersuchten Ebenen voneinander. Dies wiederum nährte den Verdacht jüdischer Illoyalität und führte in einer Zeit, in der nicht so sehr antijüdisches Handeln als vielmehr Intelligenzfeindlichkeit, die Abgrenzung vom Westen und innere Machtkämpfe in der Sowjetpolitik eine Rolle spielten, zu dem „Scherbenhaufen ihrer [d.h. der Juden] gescheiterten Integration“ (S. 511).

Dass Grüner damit die Gleichsetzung sowjetischer und nationalsozialistischer Einstellungen ebenso falsifiziert wie die Valenz rassistischer Motive und damit auch die angeblich auf Deportation oder Vernichtung zielenden „letzten Absichten“ Stalins aus dem Jahre 1953 in Abrede stellt, ist der positive Beitrag der Arbeit. Aber in mancher Hinsicht wird Grüner auch ein Opfer seiner Thesen und seiner Quellen. So lastet er die Liquidierung des JAK im November 1948 der prozionistischen Begeisterung der sowjetischen Juden an – nicht aber dem außenpolitischen Schwenk der UdSSR aus Enttäuschung über die Westorientierung des neuen jüdischen Staates. Auch dass die „Entfremdung“ nicht bei allen zu einer Entdeckung der jüdischen Identität, sondern manchmal auch zur kompletten Assimilierung führte, weiß Grüner wohl – und kann in seinen Quellen naturgemäß nur diejenigen ausmachen, die sich „jüdisch-nationalbewusst“ äußern. Die anderen schrieben eben nicht an markant jüdische Funktionäre und gerieten so nicht in des Autors Blickfeld. Dass Benjamin Pinkus die These des verstärkten Nationalgefühls vertrat, ist bei dessen israelischer Perspektive ebenso wenig erstaunlich wie aussagekräftig. Vor dem „Scherbenhaufen der gescheiterten Integration“ standen daher nur diejenigen, die ihre Integration als gescheitert wahrnahmen; die anderen waren integriert und unsichtbar. Dem Wert von Grüners Buch tut dies keinen Abbruch. Er hat einen ersten Schritt in Richtung einer historisch-distanzierten Wertung geleistet und den diskursiven Zugang zu dieser Thematik erschlossen.

Frank Golczewski, Hamburg

Zitierweise: Frank Golczewski über: Frank Gruener: Patrioten und Kosmopoliten. Juden im Sowjetstaat 1941–1953. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2008. = Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 43. ISBN: 978-3-412-14606-1305, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 305: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Golczewski_Gruener_Patrioten_und_Kosmopoliten.html (Datum des Seitenbesuchs)