Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 136-137

Verfasst von: Carsten Goehrke

 

Nikolaj Ivanovič Nikitin: Russkaja kolonizacija s drevnejšich vremen do načala XX veka (istoričeskij obzor) [Die russische Kolonisation von den ältesten Zeiten bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Historischer Überblick]. Moskva: Institut Rossijskoj istorii RAN 2010. 221 S. ISBN 978-5-8055-0224-9.

Dass in Russland als einem der größten Flächenstaaten der Welt, zudem in einem Land, dessen Geschichte laut einem viel zitierten Ausspruch V.O. Ključevskijs die „Geschichte eines in steter Kolonisation befindlichen Landes“ ist, eine erste Gesamtdarstellung dieses Prozesses erst 1996 erschienen ist – und zwar als Erstpublikation einer 1928/29 gehaltenen Vorlesung M. K. Ljubavskijs, muss erstaunen. Daher ist das Anliegen N. I. Nikitins, eines Sibirienhistorikers, zu begrüßen, einen kurz gefassten Überblick über den derzeitigen Forschungsstand zur Kolonisationsgeschichte Russlands bis 1917 zu geben. Den Begriff Kolonisation versteht er als wertneutral im Sinne einer Ausbreitung der Ostslaven innerhalb Nordeurasiens von der Völkerwanderungszeit bis in den Ersten Weltkrieg hinein. Er unterscheidet dabei zwischen der ungelenkten, ‚freien‘ Wanderung von Siedlergruppen (nach meiner Diktion Sickerwanderung) und der gelenkten Ansiedlung durch Klöster, Adlige und zunehmend den Staat. Je weiter die Kolonisation auf der Zeitachse fortschreitet und je komplexer die Wanderungsprozesse sich gestalten, desto stärker fächert der Autor sinnvollerweise auch seine Optik regional auf, bringt die Bedeutung von sozialer Differenzierung und Urbanisierung ins Spiel und zeigt, wie sich die Hauptwanderungslinien im Laufe der Zeit vom Flussnetz auf Straßen und schließlich Eisenbahnlinien verlagern (vor allem in Sibirien). Russisch-Amerika und das Baltikum werden als untypische Gebiete russischer Kolonisation gesondert behandelt, und auch das Verhältnis zwischen russischen Kolonisatoren und indigenen Völkern (wiederum vor allem in Sibirien) findet Nikitins Aufmerksamkeit. Nur am Rande streift er allerdings die ethnisch buntscheckige Aufsiedlung Bessarabiens im ersten Viertel des 19. Jhs., und die historisch wahrlich nicht unbedeutende wolgadeutsche Kolonisation unter Katharina II. fällt völlig unter den Tisch. Nicht überall zeigt Nikitin sich auf der Höhe selbst der russischen Forschung. So beziffert er für das frühe 13. Jh. die Anzahl der Städte der Kiever Rus’ auf über 300, während die ukrainischen Archäologen von nicht einmal 80 Städten im eigentlichen Sinne ausgehen. Desgleichen vertritt Nikitin die archäologisch inzwischen überholte These, dass der Mongolensturm in der Mitte des 13. Jhs. die südlichen Gebiete des Kiever Reiches weitgehend entvölkert habe. Das Schlusskapitel (S. 167–176) präsentiert einen zusammenfassenden Rückblick und versucht eine Typisierung und Bewertung des Kolonisationsphänomens. Nikitin wertet die russische Kolonisation für die nordeurasische Peripherie als „segensreich“, billigt aber auch den Indigenen prägende Einflüsse auf die russische Lebensweise und Alltagskultur zu.

Insgesamt leistet das Büchlein das, was es verspricht: einen konzentrierten, aber hinreichend differenzierten Überblick über die Ausbreitung der Ostslaven bzw. Russen zu geben (leider in einer Auflage von lediglich 300 Exemplaren). Zweierlei bleibt jedoch grundsätzlich zu beanstanden: Die für das Thema insbesondere methodologisch nicht unwichtige englisch- und deutschsprachige Forschung wird völlig ausgeblendet, und die Bezüge der Wanderungsprozesse zur konkreten räumlichen Umgebung bleiben vage. Nikitin erwähnt zwar die großen Landschaftszonen wie Steppe, Waldsteppe und Tajga, sie erscheinen aber nur als blasse und abstrakte Schemata. Und die Zusammenhänge zwischen Wanderung und Geopolitik fehlen gänzlich. In dieser perspektivischen Trennung von Geographie und Geschichte zeigt sich immer noch das Erbe sowjetischer Wissenschaftstradition.

Carsten Goehrke, Zürich

Zitierweise: Carsten Goehrke über: Nikolaj Ivanovič Nikitin: Russkaja kolonizacija s drevnejšich vremen do načala XX veka (istoričeskij obzor) [Die russische Kolonisation von den ältesten Zeiten bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Historischer Überblick]. Moskva: Institut Rossijskoj istorii RAN 2010. 221 S. ISBN 978-5-8055-0224-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Goehrke_Nikitin_Kolonizacija.html (Datum des Seitenbesuchs)

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