Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 3, S.  421-422

A. N. Naumov (otv. red.) Pozdnesrednevekovyj gorod: archeologija i istorija. Materialy Vserossijskogo seminara 18–20 nojabrja 2005 g. V dvuch čast’jach [Die spätmittelalterliche Stadt. Archäologie und Geschichte. Materialien eines All­russischen Seminars vom 18. bis 20. Novem­ber 2005 in zwei Teilen]. Gosudarstvennyj voenno-istoričeskij i prirodnyj muzej-zapovednik „Kulikovo Pole‟ Tula 2007, Čast’ 1: Izučenie pozdnesrednevekovoj Tuly [Teil 1: Die Erforschung des spätmittelalterlichen Tula].  284 S. Čast’ 2: Izučenie pozdnesrednevekovych gorodov Rossii [Teil 2: Die Erforschung spätmit­telalterlicher Städte Russlands]. 184 S., Tab., Ktn., Abb. ISBN: 978-5-903587-04-9

Kulturhistorisch dauerte das Mittelalter Russlands bis ins späte 17. Jahrhundert. Unter „Spätmittelalter“ verstehen die Herausgeber der beiden Sammelbände daher das 16. und 17. Jahrhundert, ja einige Beiträge bestreichen auch noch das 18. Jahrhundert. Der umfangreichere 1. Teil behandelt ausschließlich Tula, das im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts als in Stein aufgeführte Grenzfestung und als Verteidigungszentrum der ältesten gegen die Krimtataren angelegten Grenzverhaulinie gegründet wurde. Die 1999/2000 durchgeführten Flächengrabungen innerhalb des Kreml’ zeigen, wie dicht dieser mit hölzernen Gebäuden, welche im Belagerungsfall den Eliten als Fluchthöfe dienten (osadnye dvory), und mit Werkstätten von Handwerkern überbaut war, bis er am Ende des 17. Jahrhunderts seine Funktion zu verlieren begann, weil die Grenzverhaulinie weiter nach Süden vorgerückt war. Grabungen außerhalb des Kreml’ haben erst in jüngster Zeit stattgefunden. Sie zeigen, dass das heutige geometrische Straßensystem der Stadt erst nach dem Großbrand von 1834 und nicht schon zur Zeit Katharinas II. entstanden ist. Von alltagsgeschichtlichem Interesse sind die zahlreichen tönernen Pfeifenköpfe, die im posad und in den slobody gefunden wurden und anzeigen, dass der Tabakgenuss allen kirchlichen Sanktionen zum Trotz unter der Stadtbevölkerung weit verbreitet gewesen sein muss, wobei dies die Schlussfolgerung des Rezensenten ist.

Der zweite Teil enthält ein Konglomerat unterschiedlichster Beiträge, deren räumlicher Schwer­punkt auf den damaligen südlichen Grenz­kreisen liegt. Dabei geht es keineswegs nur um Stadtgeschichte, sondern einige der bedeutsamsten Beiträge reichen darüber hinaus: so derjenige von N. K. Fomin, der im Rahmen der Grenzfestungen die Organisation des Verteidigungssystems der Grenzverhaulinie analysiert, sowie derjenige von N. V. Ivanov, der durch Geländebegehungen die pogost-Zentren des 16. Jahrhunderts in den Kreisen Tula, Dedilov und Kašira zu lokalisieren versucht. Regional völlig aus dem Rahmen fällt E. V. Salminas Gra­bungsbericht über den Keller eines großen Steinhauses aus Pskov. M. R. Bedelevs einleitende Analyse der Aussagen ausländischer Reiseberichte über die frühneuzeitlichen Städte des Moskauer Reiches hebt den Quellenwert hervor, schreibt das Naserümpfen der Ausländer über die „Primitivität“ des Stadtlebens aber der Emotionalität der Autoren zu. Dass es sich dabei um „kulturell bedingte Missverständnisse“ handelt, bleibt ihm verschlossen, da er die deutschsprachigen Arbeiten zum Ost-West-Vergleich (etwa von Gabriele Scheidegger) nicht kennt. Erwähnenswert ist noch Ju. M. Smirnovs vergleichende Untersuchung der Kirchenpatrozinien von Stadt und Land Murom, denn er vermag zu zeigen, dass im Laufe der Frühen Neuzeit die lokal verwurzelten Patrozinien zunehmend durch Moskauer Vorbilder bedrängt wurden.

Insgesamt ist dieses zweiteilige Werk primär von regionalgeschichtlichem Wert; die Perspektive der Autoren bleibt eng und ausschließlich sachbezogen. Auch die Herausgeber verzichten darauf, die Sujets in größere Zusammenhänge einzuordnen.

Carsten Goehrke, Zürich

Zitierweise: Carsten Goehrke über: A. N. Naumov (otv. red.): Pozdnesrednevekovyj gorod: archeologija i istorija. Materialy Vserossijskogo seminara 18–20 nojabrja 2005 g. V dvuch čast’jach [Die spätmittelalterliche Stadt. Archäologie und Geschichte. Materialien des Allrussischen Seminars vom 18. bis 20. November 2005 in zwei Teilen]. Gosudarstvennyj voenno-istoričeskij i prirodnyj muzej-zapovednik «Kulikovo Pole» Tula 2007, Čast’ 1: Izučenie pozdnesrednevekovoj Tuly [Teil 1: Die Erforschung des spätmittelalterlichen Tula]. Čast’ 2: Izučenie pozdnesrednevekovych gorodov Rossii [Teil 2: Die Erforschung spätmit­telalterlicher Städte Russlands]. ISBN: 978-5-903587-04-9, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 421-422: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Goehrke_Naumov_Pozdnesrednevekovyj_gorod.html (Datum des Seitenbesuchs)