Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 274-275

Verfasst von: Carsten Goehrke

 

Aleksej Ėvrenovič Karimov Dokuda topor i socha chodili. Očerki istorii zemel’nogo i lesnogo kadastra v Rossii XVI – načala XX veka [So weit Axt und Hakenpflug reichen. Überblick über die Geschichte des Boden- und Waldkatasters in Russland vom 16. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert]. Moskva: Nauka, 2007. 237 S., Abb., Ktn., Tab. ISBN: 978-5-02-034114-2.

„So weit Axt und Socha reichten ...“ – mit dieser Formel umschrieben die Grundbücher der Moskauer Rus über den von ihnen näher erfassten Kernbereich bäuerlicher Wirtschaftstätigkeit hinaus nur noch summarisch die Peripherie des Kulturlandes. In Karimovs Buch geht es darum, die Entwicklung des Katasterwesens in der Moskauer Rus’ und im Russländischen Reich zu skizzieren und wissenschaftlich-komparativ zu verorten. Insbesondere interessiert ihn die Frage nach den im Zuge der Entwicklung staatlicher Interessen wechselnden Funktionen des Katasters. Ging es im 16. und 17. Jahrhundert vor allem darum, das steuer- und lastenpflichtige Nutzland der Bauern zu erfassen, während der Wald nur am Rande interessierte, wechselte seit der Regierung Peters des Großen der staatliche Fokus. Mit der Einführung der Kopfsteuer wurde die Veranlagung des bäuerlichen Nutzlandes uninteressant. Stattdessen trat die Zuschreibung der bäuerlichen Leibeigenen zum jeweiligen Adelsgut in den Vordergrund, und seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die genaue Aufmessung der adligen Besitztumsgrenzen, um Grenzstreitigkeiten gerichtlich klären zu können. Auch der Wald fand nun gebührende Aufmerksamkeit für die Anlage eines Waldkatasters, aber nur insoweit es sich um Wälder handelte, die Mastholz für die kaiserliche Flotte liefern konnten. Immerhin vermochte die „Generalvermessung“ (generalnoe meževanie), welche in der Mitte des 18. Jahrhunderts begonnen wurde, bereits große Teile des europäischen Russland kartographisch zumindest grob zu erschließen. Ein flächendeckender Waldkataster wurde in Zusammenhang mit dem Aufbau einer Waldwirtschaft und eines Forstverwaltungssystems jedoch erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts angelegt, und auch nur für das europäische Russland. Karimov arbeitet sehr klar heraus, dass das Katasterwesen Russlands im Unterschied etwa zu England immer strikt obrigkeitszentriert blieb und nie vorausschauend weiterentwickelt wurde – es hatte ausschließlich reaktiv den wechselnden Bedürfnissen des Staates zu folgen. Auch als in den sechziger bis achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Zemstvo-Organisationen ihr eigenes, ausgefeiltes Katasterwesen zu entwickeln begannen, welches nach den damals modernsten Kriterien ein möglichst vollständiges Bild der bäuerlichen Kultur- und Besitzlandschaft erstellen sollte, griff die staatliche Reaktion seit den späten achtziger Jahren in dieser Beziehung hart durch und nahm das ländliche Katasterwesen erneut an die Kandare der eigenen, viel begrenzteren Interessen. Erst die Stolypinschen Reformen konnten wieder an das Zemstvo-Modell anknüpfen. Was die wissenschaftliche Verortung des russischen Katasterwesens anbelangt, so zeigt Karimov auf, dass im Unterschied zu Westeuropa weder Boden- noch Waldkataster vor dem 19. Jahrhundert als Basis für die Erstellung staatlichen Kartenmaterials gedient haben (mit gewisser Ausnahme der Sibirienkarte S. U. Remezovs).

Karimovs Darstellung ist der erste mir bekannte Versuch, eine historische Gesamtschau des vorsowjetischen russischen Katasterwesens vorzunehmen. Dies ist ein bleibendes Verdienst, auch wenn es sich lediglich um einen Überblick handelt, der zudem – weil der junge Autor kurz vor der Fertigstellung seines Manuskriptes einem Autounfall zum Opfer fiel – mit lediglich provisorischen Nachweisen versehen ist und in Teilen rekonstruiert werden musste. Dass der Autor Geograph und kein gelernter Historiker war, macht sich in dem Kapitel bemerkbar, welches der Moskauer Rus’ gewidmet ist. Die Behauptung, das Katasterwesen gehe dort schon auf den Anfang des 15. Jahrhunderts zurück, lässt sich nicht belegen. Und dass er das Vorwiegen von Brachland (perelog) im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts lediglich als eine spezifische Wirtschaftsweise (S. 35 f) und nicht primär als Folge der schweren Wüstungserscheinungen im Gefolge des Livländischen Krieges versteht, verrät, wie wenig vertraut er mit jener Zeit war.

Carsten Goehrke, Zürich

Zitierweise: Carsten Goehrke über: Aleksej Ėvrenovič karimov Dokuda topor i socha chodili. Očerki istorii zemel’nogo i lesnogo kadastra v Rossii XVI – načala XX veka [So weit Axt und Gabelhaken reichten. Skizzen zur Geschichte des Boden- und Waldkatasters im Russland des 16. bis beginnenden 20. Jahrhunderts]. Moskva: Nauka, 2007. ISBN: 978-5-02-034114-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Goehrke_Karimov_Dokuda-topor.html (Datum des Seitenbesuchs)

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