Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 327-329

Verfasst von: Carsten Goehrke

 

Pierre Gonneau / Aleksandr Lavrov: Des Rhôs à la Russie. Histoire de l’Europe orientale (v. 730 – 1689). Paris: Presses Universitaires de France, 2012. 687 S. = Nouvelle Clio. L'histoire et ses problèmes. ISBN: 978-2-13-051816-7.

Eine wissenschaftliche Gesamtschau des vorpetrinischen Osteuropa gab es in diesem Umfange bislang nicht. Mit den Pariser Historikern Pierre Gonneau und Aleksandr Lavrov haben sich zu diesem Zweck ein Mediävist und ein Frühneuzeithistoriker zusammengetan, und entstanden ist daraus ein eindrucksvolles Werk, welches sich der enormen Belesenheit der Autoren verdankt.  Es bestreicht den gesamten Zeitraum von den frühen Ostslaven bis zum Vorabend des Russländischen Reiches Peters des Großen. Der UntertitelHistoire de lEurope orientaleerweckt den Eindruck, dass damit die Geschichte des gesamten Ostslaventums gemeint ist, doch liegt der räumliche Schwerpunkt für das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit eindeutig auf dem Moskauer Reich. Das Großfürstentum Litauen als Vorgängerstaat der heutigen Ukraine und Weißrusslands wird nur dort behandelt, wo es um die Formierung von Nachfolgestaaten nach dem Zerfall des Reichs von Kiev und um die kirchlichen Konflikte zwischen den Großfürstentümern Litauen und Moskau geht.

Das Werk gliedert sich in vier Teile. Am Anfang stehen eine Einleitung und eine systematisierte bibliographische Übersicht, welche Hilfsmittel und Quellen nahezu umfassend und die Forschungsliteratur in einer hinreichend repräsentativen Auswahl zusammenstellt (S. 368). Dieser einleitende Teil hat allerdings eher den Charakter eines Kompendiums, da der nachfolgende Text die Bibliographie nicht ausschöpft. Die eigentliche Darstellung besteht aus zwei Teilen: Fakten (S. 69372) und Probleme (S. 373587). Den Schluss bildet ein umfangreicher Anhang aus einer dichten Chronologie, Genealogien, Karten, Abbildungen und einem Orts- und Personenregister (S. 589679).

Bereits die Ungleichgewichtigkeit der beiden Textteile deutet an, worauf sich das Hauptinteresse der beiden Autoren konzentriert:  auf eine dichte Beschreibung der territorialen undstaatlichenEntwicklung unter Einschluss der Herrschafts- und Machtstrukturen. Dabei erhalten regionale Sonderentwicklungen wie Groß-Novgorod und Pskov den ihnen gebührenden Raum zugemessen (S. 169220). Warum die Autoren den zweiten Textteil mit Les problèmes überschreiben, bleibt nicht einsichtig. Man würde erwarten, dass dort zentrale Probleme diskutiert würden, aber stattdessen findet man jene historischen Bereiche, die bei den Fakten bestenfalls am Rande gestreift werdenKohäsionsfähigkeit und zentrifugale Kräfte im Reich von Kiev, Landwirtschaft, Städte und Handel, Gesellschaft, Kirche und Kirchenbesitz sowie das kulturelle Erbe. Das Darstellungskonzept hält sich bis ins Detail eng an die Quellen. Das ist seine ausgesprochene Stärke, hätte als Kompensation aber auch erfordert, das Faktenmosaik einerseits in übergreifende Zusammenhänge zu stellen und andererseits die großen Entwicklungslinien aufzuzeigen. Dies geschieht im ersten Hauptteil (mit Ausnahme Groß-Novgorods) eigentlich nur dort, wo es um Staats- und Machtstrukturen geht. So stehen der faktographische und der systematische Hauptteil des Buches weitgehend unverbunden nebeneinander. Das gilt schon für die kurze Skizzierung des räumlichen und geographischen Umfeldes eingangs des Textteils, die über Banalitäten hinaus (etwa dass Russland wegen der Seltenheit natürlicher Steinvorkommen eine Holzbaulandschaft und für Steinbauten auf Ziegel angewiesen sei, S. 73) zwischen historischer Entwicklung und räumlichem Umfeld keinen weiter und tiefer ausgreifenden Bezug herstellt.

Ihr Konzept der quellennahen dichten Beschreibung verbinden die beiden Autoren in den einzelnen Kapiteln mit der Vorstellung der wichtigsten divergierenden Forschungsmeinungen, ohne jedoch dazu immer eine eigene Stellung zu beziehen. Es dünkt mich offensichtlich, dass sie sich bemühen, ihre Darstellung möglichstoffen‘ zu halten, um es letztlich der Leserschaft zu überlassen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Ein geschickter Kunstgriff ist es, Kapitelüberschriften immer wieder als Fragen zu formulieren, um konträre Deutungspositionen zu markieren (Novgorod, une république médiévale russe? Lautocratie russe: un pouvoir sans partage?). Dieses Bemühen um Offenheit der Darstellung und Zurückhaltung bei der Interpretation kommt auch darin zum Ausdruck, dass Gonneau und Lavrov sich gegen den verbreiteten Topos von der zentralistisch-machtstaatlichen Determiniertheit der Geschichte Russlands wenden. Sie betonen in ihrem abschließenden vierseitigen Resümee, dass man die Geschichte Osteuropas nicht auf ein Dilemma zwischen einem starken Staat und einem Chaos reduzieren dürfe, sondern dass gerade die angebliche Niedergangsperiode des späten Reiches von Kiev offenbart habe, welche Dynamik und welche Entwicklungsmöglichkeiten die Regionalisierung hervorzubringen vermochte; dies zeige sich auch noch im Spätmittelalter an den Beispielen von Tver, Groß-Novgorod und Pskov (S. 584). Dies ist völlig unbestritten, doch der Frage, warum sich in der frühen Neuzeit um Moskau trotzdem ein zentralistischer Machtstaat gebildet hat, weichen die Autoren aus. Generell werden Fragen, die sich bei der Lektüre stellen, selten vertieft oder sie bleiben unbeantwortet. Die Autoren weisen etwa darauf hin, dass die Aufstände des 17. Jahrhunderts sich in ein gesamteuropäisches Muster einfügen, sagen aber nicht, warum (S. 478479). Die Kirchenspaltung (Raskol) in der Mitte des 17. Jahrhunderts wird von ihren Anfängen her beschrieben, aber nicht wirklich auf ihre tiefer wurzelnden Ursachen (etwa das Weiterwirken einer magisch verstandenen Religiosität bei den Altritualisten) zurückgeführt (S. 502504). Die Entstehung der Kosakenheere im späten 16. Jahrhundert wird als rein politisches Phänomen beschrieben und nur andeutungsweise mit der Lebenswelt in den Auenwäldern des Steppenabschnitts von Don und Dnepr in Verbindung gebracht, die ihnen Existenzgrundlagen und Schutz vor dem Zugriff der Tataren bot (S. 295296, 456463).

Vergleiche setzen die Autoren gezielt und sparsam ein, beschränken sich dabei aber auf eher engere Fragestellungen. Dabei hätte etwa ein eingehender Vergleich des Verhältnisses von Adel und Herrscher im Moskauer und im polnisch-litauischen Doppelreich des 16. Jahrhunderts zur gegensätzlichen Entwicklung der politischen Verfassung beider Systeme des Ostslaventums sehr viel Erhellendes beitragen können.

Im Bereich ihrer thematischen Schwerpunkte sind Gonneau und Lavrov auf der Höhe des internationalenauch archäologischenForschungsstandes. Dies gilt etwa für die Warägerfrage und die Entstehung des Reichs von Kiev (dazu eine differenzierte Bilanz S. 103108), für die von der Forschung bis vor kurzem überschätzten materiellen Auswirkungen des Mongolensturms (un désastre limité, S. 167168) oder das Novgoroder Veče. Angesichts der jüngst wieder stark diskutierten Frage nach der Verwurzelung des Zarenmythos als eines Wertes, welcher von allen Schichten der Moskauer Gesellschaft geteilt worden sei, vertreten die Autoren den Standpunkt, dass dies eine reine Hypothese sei (S. 467). Solche dezidierten Stellungnahmen hätte man sich öfters gewünscht.

Gonneaus und Lavrovs Werk hätte ein großer Wurf werden können, wenn es stärker vertiefenden Fragen nachgegangen wäre und wenn der systematische Teil das gleiche Gewicht erhalten hätte wie der deskriptive. Die Wirtschaftsgeschichte kommt entschieden zu kurz, historische Demographie, Geschlechtergeschichte und andeutungsweise auch Alltagsgeschichte erscheinen zwar in der Bibliographie, nicht aber im Text. Das hat insofern Konsequenzen, als zwar beispielsweise die geschätzten Einwohnerzahlen der Städte penibel aufgezählt werden, es aber wegen des Fehlens eines Urbanisierungsquotienten nicht möglich ist, daraus Schlussfolgerungen auf den Verstädterungsgrad und auf dessen Rolle für den Binnenmarkt zu  ziehen. Auch die Zusammenhänge zwischen ökonomischer und demographischer Entwicklung einerseits, gesellschaftlicher Entfaltung und den dadurch gegebenen oder eingeschränkten Möglichkeiten politischer Partizipation andererseits bleiben wegen dieser Lücken ausgeblendet. Die Zusammenfassung am Schluss hätte eine Möglichkeit geboten, das dargestellte Osteuropa in einen gesamteuropäischen Kontext einzufügen und sein eigenes historisches Profil herauszuarbeiten. Doch über die Erwähnung gewisser tatarischer Einflüssen und des byzantinischen Vorbildes hinaus werden die Autoren nicht konkret. Was das Buch auf vorbildliche Weise leistet, ist eine quellen- und forschungsorientierte, detaillierte äußere‘ Beschreibung der Geschichte des Kiever und des Moskauer Reiches. Deren Einbettung in ihre räumlichen, demographischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bleibt jedoch rudimentär, und die großen Linien, übergreifenden Zusammenhänge und wichtigsten Strukturen der historischen Entwicklung treten weit in den Hintergrund.

Carsten Goehrke, Zürich

Zitierweise: Carsten Goehrke über: Pierre Gonneau / Aleksandr Lavrov: Des Rhôs à la Russie. Histoire de l’Europe orientale (v. 730 – 1689). Paris: Presses Universitaires de France, 2012. 687 S. = Nouvelle Clio. L'histoire et ses problèmes. ISBN: 978-2-13-051816-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Goehrke_Gonneau_Des_Rhos_a_la_Russie.html (Datum des Seitenbesuchs)

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