Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 3, S. 465‒467

Verfasst von: Christopher Gilley

 

Christoph Mick: Kriegserfahrungen in einer multiethnischen Stadt. Lemberg 1914–1947. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. 632 S., 4 Ktn. = Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien, 22. ISBN: 978-3-447-06193-3.

Nur wenige Städte der heutigen Ukraine ziehen das Interesse der Historiker so an wie Lemberg. Das hat mehrere Gründe. Die Stadt nimmt eine wichtige Rolle in den nationalen Geschichtsschreibungen aller Bevölkerungsgruppen, die heute und früher in der Stadt wohnten, ein: Sie wurde zum Beispiel als der Vorposten der polnischen Zivilisierungsmission im Osten, die Hauptstadt des ukrainischen Piemont und ein wichtiges Zentrum der jüdischen Kultur angesehen. Darüber hinaus war Lemberg in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts der Schauplatz wiederholter Herrschaftswechsel, von Kriegen, Pogromen, Völkermord und Vertreibung. Da diese katastrophalen Ereignisse die verschiedenen ethnischen Gruppen Lembergs ganz unterschiedlich trafen, nahmen Polen, Ukrainer und Juden dieselben Vorkommnisse gegenläufig wahr.

Dies nimmt Mick als seinen Ansatzpunkt. Um die konkurrierenden und gegensätzlichen nationalen historiographischen Fronten zu durchbrechen, greift er auf einen erfahrungsgeschichtlichen Ansatz zurück. Dabei untersucht er die Erfahrungen der verschiedenen ethnischen Gruppen, ohne sie nach ihrer vermeintlichen Nähe zu einer rekonstruierten Wirklichkeit zu hierarchisieren, und beschreibt, wie die wahrgenommene Erfahrung der Beteiligten ihr Verhalten und Handeln bestimmte. In der Praxis mag es sich herausstellen, dass man eine solche Hierarchisierung nicht immer völlig vermeiden kann oder soll. Allerdings ermöglicht der Ansatz Mick eine gut geschriebene, differenzierte und fundierte Darstellung des Handelns und der Wahrnehmung der Bevölkerung unter den katastrophalen Bedingungen von 1914–1947.

Der zentrale Erzählungsstrang zeichnet nach, wie das ethnisch gemischte Lemberg mit polnischer Mehrheit eine ukrainische Stadt wurde: also den Wandel von Lwów zum L’viv. Der Erste Weltkrieg verschärfte die schon bestehenden ethnischen Spannungen, indem die Politik der russischen Besatzungsmacht die verschiedenen Gemeinschaften unterschiedlich behandelte. Während die Juden unter der ständigen Furcht von Pogromen leben mussten, fand die polnische Gemeinschaft einen nützlichen Vorsprecher in der Person von Tadeusz Rutowski (dem Präsidenten der Stadt Lemberg), der für die Polen einige Aspekte der Besatzung mildern konnte. Die Ukrainer wurden einer Politik der Russifizierung ausgesetzt. Hier ist hervorzuheben, dass im Widerspruch zur typischen nationalukrainischen Darstellung Mick unterstreicht, wie der russische Statthalter Grenzen setzte bei der versuchten Russifizierung der galizischen Ukrainer.

Der Rückkehr der Habsburgischen Verwaltung ging mit gegenseitigen Anschuldigungen der Geschäftemacherei und der Kollaboration zwischen den ethnischen Gemeinschaften, aber auch mit Loyalitätsverlust gegenüber der Dynastie einher. Diese Wahrnehmungen prägten auch die Perzeptionen der Anderen während des Polnisch-Ukrainischen Krieges, der dem Zerfall der Habsburgischen Monarchie folgte: Polnische Vorstellungen von jüdischen Schiebergeschäften während des Krieges und die ausgebliebene Bestrafung angeblicher Zusammenarbeit mit den russischen Besatzern durch die Habsburgischen Behörden verursachten zusammen mit traditionellen antisemitischen Vorstellungen nach der Vertreibung der ukrainischen Streitkräfte ein Pogrom; eine weitere Ursache für das Pogrom war der polnische Glaube, dass die jüdischen Neutralitätserklärungen in dem polnisch-ukrainischen Konflikt einen Verrat an der polnischen Nation darstellte.

Die Novembertage, also die Zeit des polnisch-ukrainischen Kampfes um Lemberg, waren ein bestimmendes Moment für die interethnischen Beziehungen in der Stadt während der Zwischenkriegszeit. Durch verschiedene Arten der Memorialisierung versuchten sowohl Polen als auch Ukrainer die Kriegserfahrung zu bewahren und zu instrumentalisieren: Beide Gemeinschaften benutzten auf diesem Weg die Opfer der Kämpfe, um die Jugend zu einer ähnlichen Opferbereitschaft in der Zukunft zu erziehen. Trotz der strukturellen Ähnlichkeiten zwischen den polnischen und ukrainischen Memorialisierungen waren diese inhaltlich nicht miteinander zu verbinden. Darüber hinaus hatten die Polen als Titularnation mehr Möglichkeiten: Einerseits sollte die institutionalisierte und verortete polnische Erinnerung der Novembertage den zentralen Platz Lembergs in der Zweiten Republik betonen und integrativ wirken. Anderseits war der Novembermythos auch ein Kampfplatz zwischen den Nationaldemokraten und Piłsudski-Anhängern. Die integrative Funktion erfasste auch nicht die jüdischen Bewohner der Stadt, die die Novembertage nur im Zusammenhang mit dem Pogrom betrachten konnten.

Der Zweite Weltkrieg und seine Nachwehen vollzogen die Verwandlung von Lwów zu L’viv durch den nationalsozialistischen Völkermord an den Juden und die sowjetische Aussiedlung der Polen. Mick unterstreicht, wie frühere Erfahrungen und die damit verbundenen Wahrnehmungen die lokale Erfahrung des Weltkriegs mitbestimmten. Diese änderten sich aber auch unter dem Eindruck neuer Faktoren. Er betont zum Beispiel, wie die Pogrome vom Juli 1941 äußerlich dem Muster von früheren Pogromen ähnelten und an den alten Vorurteilen gegenüber Juden anknüpften, aber mit dem großen Unterschied, dass die neuen deutschen Behörden sie guthießen und anstachelten. Die sowjetische Politik teilte hingegen die örtliche Bevölkerung sowohl nach Klassen- als auch nach ethnischen Kategorien ein. Allerdings wurden auch Maßnahmen, die gegen bestimmte Klassen gerichtet waren, von der örtlichen Bevölkerung national verstanden. Des Weiteren prägte die Erinnerung des polnisch-sowjetischen Kriegs von 1920 die sowjetische Wahrnehmung von den Polen als sowjetfeindlich, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit. Zugleich traten die örtlichen Polen und Ukrainer auch als Täter auf, zum Beispiel im polnisch-ukrainischen Kampf während des Krieges, der auch gegenseitige ethnische Säuberungen einschloss. Diese Kombination von Leid und Täterschaft führt das historische Gedächtnis der beiden Nationen weit auseinander, weil man nur das Erstere und nicht das Zweitere anerkennen wollte.

Mick gibt zu, dass wegen der Konzentration auf ethnische Konflikte sowohl soziale Konflikte als auch die friedlichen Aspekte einer multiethnischen Gemeinschaft in den Narrativen zu wenig vorkommen. Man mag auch den Einwand vorbringen, dass Mick die Trennungslinien innerhalb der vorgestellten ethnischen Gemeinschaften und die Beziehungen über ethnische Grenzen hinweg nicht ausreichend untersucht und dadurch selbst diese ethnischen Identitäten im Nachhinein verfestigt. Allerdings zeigen die Narrative vorzüglich, wie die Politik der verschiedenen Regime, die ihre Herrschaft über Lemberg ausübten, Polen, Ukrainer und Juden als solche betrachtete und behandelte und dadurch zur Homogenisierung und Abgrenzung der ethnischen Gemeinschaften beitrug. Gleichzeitig erfährt der Leser, wie zum Beispiel der Polnisch-Ukrainische Krieg die Bewohner Lembergs zwang, sich für eine einzige Identität zu entscheiden. Wenn Zeitgenossen Differenzierungen innerhalb der ethnischen Gemeinschaften immer weniger wahrnahmen, ist es auch folgerichtig, dass in einer Erfahrungsgeschichte diese wenig hervortreten. Und das ist auch ein Befund.

Außerdem geht Mick durchaus den konstruierten Trennungslinien innerhalb der Gemeinschaften nach, wenn sie in den Quellen vorkommen. So postulierten zum Beispiel die polnischen Behörden der Zweiten Republik eine Unterscheidung zwischen Ukrainern (politisch bewusster Nationalintelligenz) und Ruthenen (polenloyalen Bauern). Nichtsdestotrotz wären weitere Untersuchungen sehr produktiv, die nicht nur auf die ethnischen Konflikte abstellen, sondern auch die Trennungslinien innerhalb der vorgestellten ethnischen Gruppen und die Beziehungen über ihre imaginierten Grenzen hinweg berücksichtigen.

Lemberg war die wichtigste Stadt Ostgaliziens, und die Ereignisse in der Stadt bestimmten maßgeblich die Politik in der Provinz. Daher ist es unvermeidlich, dass Mick bei der Untersuchung der historischen Verläufe in Lemberg auch die allgemeine Geschichte von Ostgalizien erzählt. Diese Geschichte ist in Teilen nicht unbekannt, aber Mick bietet eine sehr klare Darstellung mit ausführlichen Hinweisen auf die neueste Literatur in vier Sprachen und relevante Primärquellen. Darüber hinaus tritt die örtliche Bevölkerung hier angemessen nicht nur als Objekt der Politik der benachbarten Großmächte, sondern auch als handelnder Akteur in Erscheinung. Zusammenfassend ist Micks Buch als ein im Allgemeinen gelungener und sehr solider Beitrag zur Geschichte eines osteuropäischen Grenzlandes zu betrachten.

Christopher Gilley, Hamburg

Zitierweise: Christopher Gilley über: Christoph Mick: Kriegserfahrungen in einer multiethnischen Stadt. Lemberg 1914–1947. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. 632 S., 4 Ktn. = Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien, 22. ISBN: 978-3-447-06193-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Gilley_Mick_Kriegserfahrungen_in_einer_multiethnischen_Stadt.html (Datum des Seitenbesuchs)

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