Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 300-302

Verfasst von: Michael Garleff

 

Ulrike Plath: Esten und Deutsche in den baltischen Provinzen Russlands. Fremdheitskonstruktionen, Lebenswelten, Kolonialphantasien 1750–1850. Wiesbaden: Harrassowitz, 2011. 360 S. = Veröffentlichungen des Nordost-Instituts, 11. ISBN: 978-3-447-05839-1.

In der aktualisierten Fassung ihrer bereits 2006 an der Universität Mainz verteidigten Dissertation sieht die Verfasserin die baltische Geschichte generell als Teil der deutschen Migrations- und Ideengeschichte und damit als eine „Geschichte der kulturellen Verknüpfungen und Verwebungen“ (S. 910). Dabei kontrastiert sie vor allem die Migrationserfahrungen mit der Lebenswirklichkeit während der baltischen Aufklärungszeit. Denn zahlreiche Berichte aus dieser Epochenschwelle zwischen Ständesystem und beginnender Moderne verweisen auf die Sogkraft des damaligen baltischen Ständewesens als Pull-Faktor der Migration, wobei die Abgrenzung von den Nichtdeutschen und die provinzielle Abgeschiedenheit unterschiedlich auf jene wirkten, die als „Hofmeister“ (Hauslehrer) in die baltische Region kamen. Die erhebliche Bedeutung der bürgerlichen Migration zeigt sich darin, dass von ihr die meisten Neuerungen eingeführt wurden, was besonders in der Institution des baltischen Pfarrhauses als einem „widersprüchlichen Ort zwischen Modernisierung und Assimilierung“ (S. 101) zum Ausdruck kam. Die deutsche Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität im Baltikum war demnach gespalten, indem einerseits die Isolation der Ständegesellschaft beklagt, andererseits die „künstliche Aufheizung harmloser Ständekonflikte“ (S. 104) beanstandet wurde.

Nach einem einleitenden Überblick über den Forschungsstand der deutschbaltischen wie auch der estnischen Historiografie und einer knappen Quellenbeschreibung gibt die Verfasserin im ersten Teil einen historischen Einblick in den baltischen Landesstaat, vor allem in die Migrationsgeschichte des 18. Jahrhunderts einschließlich der spezifischen Probleme dieser Region. Im zweiten Abschnitt Zwischen Stereotyp und Lebenswelt behandelt sie nicht nur die Esten in der historischen Wahrnehmung, sondern auch Aspekte der Integration und der Interaktion. Den Strukturen der Fremdwahrnehmung wendet sie sich im dritten Abschnitt zu mit den diskursiven Darstellungen von positiven und negativen Emotionen, Verfremdungsmustern und Kolonialvergleichen.

In Auswertung unterschiedlichster Quellengattungen wie Reise- und Migrationsberichten, Briefen, Memoiren und des in Zeitungen und wissenschaftlichen Abhandlungen geführten öffentlichen Diskurses analysiert die Verfasserin die Verbreitung und Popularisierung von Stereotypen. Auf dieser Grundlage untersucht sie u. a. mit Methoden der aktuellen Stereotypenforschung die Fremdheitskonstruktionen und die kolonialen Phantasien innerhalb der rational geprägten Aufklärungsdiskurse. Aus der Gegenüberstellung von stereotypen Abgrenzungen einerseits und Prozessen lebensweltlicher Angleichung andererseits ergibt sich eine Diskrepanz zwischen dem Blick von außen und jenem von innen: „Die Migranten verfremdeten die Esten und die baltische Lebenswelt, während die Inländer sie in ihren Erinnerungen harmonisierten.“ (S. 205) Die durchaus komplexen Beziehungen zwischen Stereotypen und Lebenswelt lassen in der Tat der Erforschung des Alltags und der Angleichungsprozesse zwischen Deutschen und Esten eine herausragende Bedeutung zukommen, womit wesentliche Aufgaben der gegenwärtigen und künftigen Forschung markiert sind. Um dieses „Kettenglied“ zu verdeutlichen, untersucht die Verfasserin im letzten Teil ihrer Arbeit die „diskursiven Konstruktionen sekundärer Fremdheit“ gegenüber Esten und Letten (S. 206), wobei diese Fremdheitsdiskurse sich in allen literarischen Gattungen und sozialen Zusammenhängen sowohl bei Inländern als auch bei Migranten finden. In der baltischen Geschichtsforschung steht die historische Interpretation von abgrenzenden „negativen“ und integrierend wirkenden „positiven Emotionen“ in der Tat noch am Anfang.

Im Rückgriff auf alte Stereotype des livländischen Bauern als Inbegriff europäischen Heidentums und des sozialen Elends in einem despotischen Herrschaftssystem entwickelte sich der Verfasserin zufolge im Fremdheitsdiskurs des 19. Jahrhunderts der „baltische Kolonialdiskurs“, wobei die Stereotype über die autochthonen Völker in den verwendeten Kultur- und Kolonialvergleichen häufig austauschbar waren. Das Baltikum wurde demnach „von einem Negativbeispiel für die östliche Sklaverei zu einer Beispielregion des deutschen Kolonialismus“ (S. 283), indem man die deutsche Ostsiedlung zunehmend als „genuin deutsche koloniale Leistung, als strukturelles Vorbild für die europäische Expansion nach Übersee“ und politisches Handlungsziel ansah. Künftig werden allerdings – von der Verfasserin zu Recht betont – die integrierenden Strukturen der baltischen Gesellschaft stärker erforscht werden müssen, wobei den sog. „häuslichen“ Strukturen, insbesondere der Rolle der Frauen, intensive Aufmerksamkeit zukommen muss. Denn sowohl deutsche als auch estnische und lettische Frauen beeinflussten jeweils auf ihre Weise in erblichem Maße die Kulturkontakt und den Kulturtransfer. Auch der baltische Kolonialdiskurs des 19. Jahrhunderts sollte intensiver erforscht werden, denn neben die Befremdung der ersten Zuwanderer traten auch Akzeptanz und Einbeziehung des ethnisch Anderen in die transkulturelle Welt des Baltikums. Entsprechend lautet der letzte Satz dieser Arbeit zutreffend: „Die Verwebungen und Verwachsungen der deutschen und estnischen Kultur des Baltikums waren weitaus enger, als der Fremddiskurs glauben machen will.“ (S. 285)      

Abgesehen von vereinzelten Ungenauigkeiten im Personenregister, bei den Erstveröffentlichungangaben im Literaturverzeichnis, bei der Verwechslung von Hermann mit Eduard von Keyserling oder der Titelbezeichnung von Grosbergs Buch „Meschwalden“ handelt es sich insgesamt um eine gut lesbare und inhaltlich weitgehend überzeugende Abhandlung. Mit der Berücksichtigung sowohl alltags- und sozialgeschichtlicher als auch literatur- und kulturgeschichtlicher Aspekte gelingt es der Verfasserin, die von der baltischen historischen Forschung allzu lange unbeachtet gelassenen Fremdheitskonstruktionen und Lebenswelten durch gut recherchierte inhaltliche und innovative methodische Aspekte als Forschungsschwerpunkte zu etablieren. Ihre Ausführungen zu den sog. Kolonialphantasien bedürfen allerdings ebenso einer weiteren Vertiefung wie es wünschenswert wäre, das Untersuchungsfeld künftig auszuweiten auf die Beziehungen zwischen Deutschen und Letten und in das „lange 19. Jahrhundert“ hinein mit seinen neuen Abgrenzungen durch das entstehende nationale Bewusstsein der unterschiedlichen Ethnien.  

Mit ihrem erfolgreichen Versuch, erstmals in dieser Intensität Diskurs und Alltag, Emotionen, Wahrnehmung und Erinnerung bei der Konstruktion von Fremdbildern miteinander zu verbinden, gibt die Verfasserin wichtige Impulse für die wissenschaftliche Analyse des Alltags und der Angleichungsprozesse zwischen Deutschen und Esten, Themen, die für die baltische Umbruchszeit zur Moderne mit ihrer Grundlegung regionaler Identitäten im 19. Jahrhundert bislang noch nicht hinreichend erforscht worden sind. In Überwindung nationalhistorischer Ansätze weist sie den Weg zu einem „transnationalen“ Blick auf die Sozial- und Alltagsgeschichte der baltischen Region und leistet damit einen wichtigen Beitrag zu der noch ausstehenden Erforschung integrierender Strukturen innerhalb der baltischen Gesellschaft.

Michael Garleff, Oldenburg

Zitierweise: Michael Garleff über: Ulrike Plath: Esten und Deutsche in den baltischen Provinzen Russlands. Fremdheitskonstruktionen, Lebenswelten, Kolonialphantasien 1750–1850. Wiesbaden: Harrassowitz, 2011. 360 S. = Veröffentlichungen des Nordost-Instituts, 11. ISBN: 978-3-447-05839-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Garleff_Plath_Esten_und_Deutsche.html (Datum des Seitenbesuchs)

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