Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 350-351

Verfasst von: Jörg Ganzenmüller

 

Ekaterina Makhotina: Stolzes Gedenken und traumatisches Erinnern. Gedächtnis­orte der Stalinzeit am Weißmeerkanal. Frankfurt/Main: Lang, 2013. 145 S. = Osteuropastudien, 1. ISBN: 978-3-631-60006-1.

Der Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ spielt eine dominante Rolle in der russischen Geschichtskultur und bringt ein heroisches Erinnern an die Stalinzeit mit sich. Ein negatives Gedächtnis, das sich selbstkritisch mit den sowjetischen Gesellschaftsverbrechen auseinandersetzt, stört hingegen eine patriotische Sinnstiftung, die auch im postsowjetischen Russland anschlussfähig ist. Allerdings existieren an den Orten staatlicher Massengewalt lokale Initiativen, die den Spuren der dort verübten Verbrechen nachgehen und die Erinnerung an die Opfer wachhalten. Diese gesellschaftlichen Akteure konkurrieren mit der staatlichen Geschichtspolitik und kooperieren zugleich nicht selten mit der staatlichen Verwaltung. Der Blick auf die lokale Ebene legt somit eine Erinnerungslandschaft frei, die um einiges vielfältiger ausfällt, als die alleinige Betrachtung der Geschichtspolitik des Kremls suggeriert.

Hier knüpft Ekaterina Makhotina an. Sie untersucht in einer Feldstudie die Formen der Erinnerung an die Stalinzeit an Gedächtnisorten des Weißmeerkanals. Der Belomorkanal wurde 1931 bis 1933 als erstes stalinistisches Großprojekt von Lagerhäftlingen gebaut. Tausende kamen infolge der harten Zwangsarbeit ums Leben. Auch Massenerschießungsorte und geheime Friedhöfe aus der Zeit des „Großen Terrors“ befinden sich im Medvež’egorsker Gebiet. Makhotina nimmt diese Topographie divergierender Erinnerungsorte in den Blick und fragt, inwieweit und auf welche Weise sich unterschiedliche geschichtspolitische Akteure dort an die Stalinzeit und ihre Verbrechen erinnern.

Der Bau des Belomorkanals wurde als Heldenepos inszeniert und bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts als ein Meisterwerk der stalinistischen Industrialisierung gefeiert. Die Sowjetmacht hatte mit diesem Großprojekt demonstriert, dass sie die Natur beherrschen und den neuen Menschen erschaffen kann. Dieses propagandistische Leitmotiv dominiert bis heute die Ausstellungen der lokalhistorischen Museen. Sie stellen den Bau des Kanals als Sprung einer bis dahin unterentwickelten Region in die industrialisierte Moderne dar. Die problematischen Seiten des Kanalbaus werden hingegen ausgeblendet: die Todesopfer, der Einsatz von Zwangsarbeitern oder die Überflutung ganzer Dörfer. Stattdessen steht der Stolz auf die Heldentaten der Ingenieure und Arbeiter am Weißmeerkanal im Vordergrund. Auf dieses Heldennarrativ stieß Ekaterina Makhotina auch bei ihren Interviews mit den Einwohnern von Medvež’egorsk. Selbst ehemalige Lagerhäftlinge, die als Zwangsarbeiter beim Kanalbau eingesetzt waren, betonen mitunter dessen wirtschaftliche und strategische Bedeutung und geben dem Bruch im eigenen Lebensweg auf diese Weise einen Sinn.

Ganz anders verhält es sich mit Sandormoch als Erinnerungsort. Die ehemalige Hinrichtungsstätte aus der Zeit des „Großen Terrors“ ist heute eine Gedenkstätte. Lange Zeit waren derartige Orte geheim. Erst in den neunziger Jahren spürten gesellschaftliche Initiativen wie Memorial diesen und andere Exekutionsorte sowie Friedhöfe auf und markierten diese mit Gedenksteinen, Kreuzen oder Stehlen. Die Angehörigen der Opfer besuchen und pflegen Orte wie Sandormoch. Hier entstehen ganz eigene Erinnerungsorte, da die jeweiligen Opferkollektive unterschiedliche Formen des Gedenkens pflegen. Unter den Einwohnern von Medvež’egorsk ist die Existenz der Gedenkstätte allerdings weitgehend unbekannt. So erscheint die Erinnerung an den Stalinismus stark fragmentiert: Die nahezu ungebrochene Modernisierungserzählung steht einer Reihe von Opfergedächtnissen gegenüber, die wiederum nur lose miteinander verbunden scheinen.

Ekaterina Makhotina gelingt mit ihrer Lokalstudie, was nur wenige Untersuchungen zur russischen Erinnerungskultur leisten: Sie vermisst eine Erinnerungslandschaft, die sehr viel heterogener ist als die Inszenierungen staatlicher Geschichtspolitik. Ihre Feldforschungen zeigen die Persistenz der sowjetischen Sinnstiftungen und zugleich die Eigenständigkeit der gesellschaftlichen Kräfte bei der Auseinandersetzung mit der stalinistischen Vergangenheit. Weder setzt sie die staatliche Geschichtspolitik mit der russischen Erinnerungskultur gleich, noch idealisiert sie gesellschaftliche Aufarbeitungs­initiativen. Vielmehr beschreibt sie eine Topographie unterschiedlicher Erinnerungsorte und geschichtspolitischer Akteure, die der Heterogenität der russischen Erinnerungskultur gerecht wird.

Jörg Ganzenmüller, Weimar/Jena

Zitierweise: Jörg Ganzenmüller über: Ekaterina Makhotina: Stolzes Gedenken und traumatisches Erinnern. Gedächtnis­orte der Stalinzeit am Weißmeerkanal. Frankfurt/Main: Lang, 2013. 145 S. = Osteuropastudien, 1. ISBN: 978-3-631-60006-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ganzenmueller_Makhotina_Stolzes_Gedenken.html (Datum des Seitenbesuchs)

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