Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 4, S. 669-670

Verfasst von: Klaus-Peter Friedrich

 

Anika Walke: Pioneers and Partisans. An Oral History of Nazi Genocide in Belo­russia. New York: Oxford University Press, 2015. XV, 317 S., 2 Ktn. = The Oxford Oral History Series. ISBN: 978-0-19-933553-4.

Über den nationalsozialistischen Judenmord lässt sich kaum schreiben, ohne auf die Versäumnisse der Erinnerungskultur einzugehen. Dies zeigt sich einmal mehr an Anika Walkes neuartiger kollektivbiografischer Darstellung über Kinder von in Weißrussland Ermordeten. Sie beruht im Wesentlichen auf seit 2001 durchgeführten lebensgeschichtlichen Gesprächen der Verfasserin mit jenen, die überlebten. Es handelt sich ganz überwiegend um Frauen, da der vorliegende Band auf Forschungen zu einem früheren Thema beruht (siehe Anika Walke: Jüdische Partisaninnen – der verschwiegene Widerstand in der Sowjetunion. Berlin 2007). Außerdem nutzt sie die Früchte der Oral History in Gestalt von Video-Zeugnissen der Shoah Foundation und des United States Holocaust Memorial Museum, ferner aufgeschriebene Erinnerungen der Erlebnisgeneration. Die Anmerkungen zeugen überdies von einer enormen Belesenheit der Autorin in der einschlägigen – und nicht zuletzt der deutschsprachigen – Forschungsliteratur.

In einer weiteren Perspektive geht es hier zugleich darum, wie das Leben der Interviewten von den zeitgeschichtlichen Umbrüchen geprägt wurde, denen sie (unfreiwillig) ausgesetzt waren, und wie diese das eigene Erinnern an das Erlebte beeinflussten. Walke spürt somit den „transformations of identity“ nach: beginnend als der kommunistischen Partei verbundene junge Pioniere, die im Kindesalter davon träumten, eine neue, von Gleichheit und Internationalismus geprägte Gesellschaft aufzubauen, dann Opfer von Zwangsarbeit und Vernichtung unter der deutschen Okkupation und jugendliche Widerstandskämpfern gegen die Besatzer und Mörder, zu abermaligen Sowjetbürgern, die sich – ohne ihre Vertrauten und Verwandten, den stärkenden Rückhalt in jüdischen Traditionen und Ritualen – nach dem Überleben in einer dem Patriotismus verhafteten Sowjetgesellschaft zurechtfinden mussten, in der für das Gedenken an den Judenmord kein eigener Platz vorgesehen war. Im Grunde gehe es ihr – so Walke – um ein Nachsinnen darüber, wie es uns Menschen möglich ist, mit den Erfahrungen unerträglich gewaltsamer Erlebnisse weiterzuleben. Gleichermaßen soll die Studie ein Buch der Erinnerung sein, das für jene Frauen und Männer aufgeschrieben wurde, die der Verfasserin in Petersburg und Minsk – auf manchmal quälende Fragen – Antwort gaben, und auch für deren Angehörige, Freunde, Nachbarn, die dem nationalsozialistischen Rassismus und seinen Auswirkungen, oft ganz auf sich allein gestellt, gegenüberstanden (S. IX). Ein Teil der Interviewten ist daher auch auf Fotografien abgebildet.

Nachdem Walke die methodologischen Grundlagen ihrer Arbeit umrissen hat (Oral History and the Nazi Genocide), wendet sie sich der Lage der sowjetischen Juden in den dreißiger Jahren „zwischen Tradition und Veränderung“ zu. Das folgende Kapitel geht auf das abrupte „Ende der Kindheit“ ein, beispielhaft dargestellt an Erfahrungen von jungen sowjetischen Juden, die Insassen des Minsker Gettos waren. Leiden und Überleben ist dann der Abschnitt überschrieben, der sich mit der Vernichtung jüdischer Gemeinschaften im östlichen Weißrussland befasst. Einen weiteren Schwerpunkt des Bands bildet Überlebenskampf und Sieg derjenigen, die den Gettos entfliehen und sich den sowjetischen Partisanen anschließen konnten, ehe Walke auf die von Simcha Zorin (1902–1974) angeführte jüdische Partisanen-Einheit (Zorin family unit) blickt, in der zahlreiche Zivilisten – nicht zuletzt Frauen (S. 200) – unterkamen und durch ihre Arbeit zum Überleben der Gruppe beitrugen; für die Minderjährigen wurde hier sogar eine Schule eingerichtet.

In ihrer Schlussbetrachtung resümiert die Verfasserin ihre Erkenntnisse über „sowjetischen Internationalismus, Judentum und den nationalsozialistischen Genozid aus dem Blickwinkel mündlich erfragter Geschichtsforschung“ (S. 204).

Sie kommt zu dem Schluss, dass das Erinnern an die Isolation die Opfer zwar nicht von dieser befreien könne, doch ergäben sich „wichtige Fragen und Antworten in Bezug auf das Problem, wie es möglich ist, auf ethische Weise mit den Nachwirkungen von systematischer Gewaltausübung fertig zu werden und [durch diese Fähigkeit] mit jenen zusammenzuleben, die darunter gelitten haben“ (S. IX). Am Ende heißt es mit Blick auf die Selbstbeschreibungen der Opfer, an deren Erfahrungen unmittelbar nach Kriegsende nicht angemessen erinnert wurde, treffend: „The stories […] speak back not only to systematic murder, but also to ignorant practices of commemoration and historiography.“ (S. 231)

Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn

Zitierweise: Klaus-Peter Friedrich über: Anika Walke: Pioneers and Partisans. An Oral History of Nazi Genocide in Belorussia. New York, NY: Oxford University Press, 2015. XV, 317 S., 2 Ktn. = The Oxford Oral History Series. ISBN: 978-0-19-933553-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Friedrich_Walke_Pioneers_and_Partisans.html (Datum des Seitenbesuchs)

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