Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 4, S. 629-630

Verfasst von: Klaus-Peter Friedrich

 

Jakub Poznański: Tagebuch aus dem Ghetto Litzmannstadt. Aus dem Polnischen übersetzt und herausgegeben von Ingo Loose. Berlin: Metropol, 2011. 354 S., Abb. ISBN: 978-3-86331-015-8.

Der Agraringenieur Jakub Poznański (18901959) war mit Frau und Tochter fast fünf Jahre im Getto Litzmannstadt eingeschlossen. Von Oktober 1941 an hielt er seine Eindrücke in Tagebucheintragungen fest: die furchtbaren Lebensbedingungen als normaler Gettobewohner, ab August 1944  versteckt auf dem geräumten Gettogelände, wo er bis zur Befreiung durch die Rote Armee im Januar 1945 überlebte, sowie die ersten Wochen unter den neuen Machthabern bis zum 2. Juni 1945. Vervollständigt wird diese Chronologie durch Rückblicke auf die Zeit seit der Besetzung von Lodz durch die Wehrmacht Anfang September 1939. Das Tagebuch liegt nach zwei Ausgaben in der polnischen Originalsprache und der hebräischen Fassung (2010) nun auch auf Deutsch vor. Sie stützt sich auf die teils noch erhaltenen Hefte undfür die im Original verschollenen Textteileauf die Erstausgabe von 1960.

Unter den zahlreichen überlieferten Aufzeichnungen aus dem Getto Litzmannstadt kommt denen von Poznański eine besondere Bedeutung zu, da sie die späteren Besatzungsjahre kommentieren, die die meisten anderen Tagebücher nicht einbeziehendenn ihre Verfasser waren mittlerweile ermordet worden oder an Krankheiten gestorben. Zu den immer wiederkehrenden Themen gehört die Höhe der in regelmäßigen Abständen an die Gettoinsassen ausgegebenen Lebensmittelrationen, die Poznański jeweils mit präzisen Gramm-Angaben notiert. Nur stellenweise erfährt der Leser Genaueres über sein Familienleben, das den Anspannungen von sich ständig verschlimmerndem Hunger, schwer erträglicher Beengtheit der Wohnverhältnisse und zahllosen mehr oder weniger beängstigenden Gerüchten ausgesetzt war. Dass die aus Litzmannstadt Deportierten in den massenhaften Tod geschickt wurden, mochte er nicht glauben (S. 86, 88, 124, 157)dies war für ihn rational nicht nachvollziehbar.

Das Getto war für Poznański ein kleinerStaatfür sich. Häufig übte er nüchterne Kritik an den Zuständen in der jüdischen Verwaltung, die dem eigenwilligenJudenältestenChaim Rumkowski unterstand: an Günstlings- und Vetternwirtschaft, gewissenvon oben‘ angeordneten, ineffektiven Regelungen usw. Wie Poznański am 26. Juli 1943 begründete, sollte sein Tagebuch gewährleisten, dassein zukünftiger Chronist nicht nur aus offiziellen Quellen wird schöpfen können, sondern auch aus privaten Aufzeichnungen(S. 130). In diesen Worten spiegeln sich auch die Erwartungen, die ab Ende 1942 auf ein baldiges Kriegsende durch den raschen Vormarsch der Alliierten gerichtet waren. Ehe es dazu kam, wurden fast alle Insassen der größten Zwangsarbeitseinrichtung unter Hitler im Sommer 1944 nach Auschwitz abtransportiert. So war der durch den Einmarsch der Russen am 20. Januar 1945 nach unsäglichen Strapazen befreite Verfasser einer der wenigen Überlebenden des Gettos.

Endete die erste Ausgabe mit dieser Zäsur, so ist der deutschen Ausgabe nun das letzte Heft angefügt, in dem Poznański die Anfangsphase des prosowjetischen Regimes beschreibt. Trotz aller gegenteiligen Bemühungen der neuen Machthaber breitete sich, wie der Verfasser enttäuscht notierte,der Antisemitismus immer weiter aus(S. 347). Trost fand er in der religiösen Traditionam ersten Pessachtag nach dem Ende der Okkupation wurde der Sederabend sehr feierlich begangen. Poznański blieb bis an sein Lebensende in Lodz und beteiligte sich als Betriebsleiter am Wiederaufbau des geschundenen Landes.

Die der Eigeninitiative von Ingo Loose zu dankende Übersetzung ermöglicht auch heute noch die Vergegenwärtigung des Leidens im Getto Litzmannstadt und stellt für die deutschsprachige Literatur eine große Bereicherung dar. Allerdings wäre ein einfühlsames Endlektorat dem Text zugutegekommen, in dem eine Reihe von weniger geglückten Formulierungen (z.B. Polonismen) stehen geblieben ist. Die Kommentierung ist uneinheitlich und im Allgemeinen zu zurückhaltend, sodass der Leser mit zahlreichen ihm unbekannten Begriffen, Personen und Institutionen alleingelassen wird. Manchmal hätten erklärende Fußnoten auch anders platziert werden müssen. Wenn Poznański von derZeitungspricht (S. 67–68), seiner (neben einem Radioapparat) wichtigsten Informationsquelle über das Geschehen jenseits des Gettozauns, meint er die Litzmannstädter Zeitung, die neuerdings auch von der Holocaust-Forschung wiederentdeckt wurde (siehe Gordon J. Horwitz Ghettostadt. Łódź and the Making of a Nazi City. Cambridge/Mass. 2008). Die Schreibung „Ghettoverwaltung“ (S. 120, 180) ist anachronistisch, war doch gerade in der Verwaltung des deutsch besetzten Lodz mit Blick auf ihr Geschöpfdas Getto Litzmannstadtfast stets nur die eingedeutschte Schreibweise im Gebrauch.

Sehr hilfreich ist das Personenregister; eine knappe Liste mit Neuerscheinungen der letzten anderthalb Jahrzehnte lädt zu vertiefender Lektüre ein. Nützlich wäre hier noch ein Hinweis auf die Internet-Präsentation des letzten Jahrs der zeitgenössischen Chronik des Gettos (http://www.getto-chronik.de) gewesen, mit der Poznańskis Eindrücke mit einem weiteren Geschehen in Beziehung gesetzt werden können.

Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn

Zitierweise: Klaus-Peter Friedrich über: Jakub Poznański: Tagebuch aus dem Ghetto Litzmannstadt. Aus dem Polnischen übersetzt und herausgegeben von Ingo Loose. Berlin: Metropol, 2011. 354 S., Abb. ISBN: 978-3-86331-015-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Friedrich_Poznanski_Tagebuch.html (Datum des Seitenbesuchs)

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