Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), S. 134-136

Verfasst von: Klaus-Peter Friedrich

 

Eduard Mühle: Breslau. Geschichte einer europäischen Metropole. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2015. 387 S., 46 Abb., 2 Ktn. ISBN: 978-3-412-50137-2.

Zwischen Böhmen, Polen, Österreich und Preußen gelegen, war die Stadt Breslau über tausend Jahre unter verschiedenen kulturellen Einflüssen wechselnden politischen Oberherrschaften unterworfen. Sie haben in der Stadtanlage und der städtischen Topografie tiefe Spuren hinterlassen. Am Ende des Zweiten Weltkriegs zerstört, kam es zu einem nahezu vollständigen Austausch der Bewohner Breslaus. Die seit dem Spätmittelalter deutschsprachige Stadt wurde als polnisches Wrocław zu großen Teilen wieder oder neu aufgebaut. In den siebziger und achtziger Jahren versank es zunehmend im Grau des kommunistischen Alltags. Erst nach dem Untergang des Ostblocks erlebte die größte und ökonomisch bedeutendste Stadt im Westen Polens seit den neunziger Jahren einen eindrucksvollen Aufschwung. Das reiche historische Erbe der inzwischen sanierten Altstadt und die sich bis in die Vororte im gesamten Stadtbild ausdrückende kulturelle Vielfalt trugen maßgeblich dazu bei.

Breslaus Geschichte war zuletzt wiederholt Thema renommierter Historiker, wobei die meisten Arbeiten – einschließlich einer von Jan Harasimowicz und Włodzimierz Suleja herausgegebenen, 2006 bereits in 3. Auflage in Wrocław erschienenen Encyklopedia Wrocławia – nur auf Polnisch vorliegen. Norman Davies und Roger Moorhouse betonten in ihrer in städtischem Auftrag verfassten Geschichte Breslaus eine angeblich ungebrochene multikulturelle, ja kosmopolitische Tradition (Die Blume Europas. München 2002). Die stadthistorische Darstellung von Eduard Mühle, Professor für Geschichte Ostmitteleuropas und Osteuropas an der Universität Münster, setzt sich bewusst von solchen vereinfachenden, den heute gültigen Paradigmen geschuldeten Interpretation ab (S. 310–311). Seine Synthese beruht auf einer profunden Kenntnis der einschlägigen Literatur, die in über 500 Anmerkungen am Ende des Bands aufgeführt wird.

Das Buch ist in zehn chronologisch angeordnete Kapitel unterteilt. Es geht somit von den Anfängen einer früh- und hochmittelalterlichen, mit Polen verbundenen Burgstadt und polyzentrischen Frühstadt (bis etwa 1230) über die auf Schlesien ausstrahlende Lokationsstadt der Piasten-Herzöge der folgenden hundert Jahre zur dynamischen patrizischen Handelsmetropole, die sich unter nun böhmischer Herrschaft bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts herausbildete. Die von Bildung und Wissenschaft, im Alltag vom kirchlichen Leben, von Frömmigkeit und christlich-jüdischem Mit- und Gegeneinander beeinflusste städtische Identität sollte sich nunmehr noch stärker ausprägen, denn wie andere Städte im Reich entwickelte sich Breslau im Zeitalter der Konfessionalisierung zu einer „Hochburg des Luthertums“ (S. 109). Unter habsburgischer Herrschaft wurde die Hauptstadt Schlesiens für ein Jahrhundert lang zum „Zielpunkt der Gegenreformation“ (S. 135), die eine eingeschränkte Rekatholisierung mit sich brachte. Seit der Eroberung Schlesiens durch Preußen Mitte des 18. Jahrhunderts stand die neu aufblühende Residenz- und Festungsstadt im Zeichen der „friderizianischen Prussifizierung“ (S. 162). Gewerbefreiheit und industrielle Modernisierung brachen sich – nicht zuletzt dank dem Breslauer Wirtschaftspionier Gustav Heinrich Ruffer (1798–1884) – Bahn. Nachdem die ausgedehnten militärischen Anlagen zu Beginn des 19. Jahrhunderts abgebrochen worden waren, wurde Breslau – jetzt unweit der Grenze zu Russland gelegen – abermals zur Festungsstadt ausgebaut. Im Wilhelminischen Kaiserreich und während der ersten deutschen Republik war Breslau aber auch ein „regionales Zentrum der Moderne“ (S. 199) im Südosten, von dem kulturgeschichtlich bedeutende Impulse ausgingen. Die 1913 errichtete Jahrhunderthalle und kommunale Wohnbauprojekte moderner Stadtentwicklung stehen für Breslaus herausragende Rolle in der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Abgesehen von der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität und der Technischen Universität verfügte die Stadt auch über eine Jüdische Hochschule. Die Jüdische Gemeinde war die nach jener in Berlin und Frankfurt am Main drittgrößte im Deutschen Reich. Mühle bringt besonders die Verdienste des liberalen, pazifistisch eingestellten Juristen und Kommunalpolitikers Adolf Heilberg (1858–1936) in Erinnerung, eines Mitbegründers der Deutschen Friedensgesellschaft (1893), der am hier früh radikalisierten Antisemitismus und Nationalismus scheiterte. Denn Juden wurden hier nicht erst 1933, sondern schon in den zwanziger Jahren sozial isoliert. Insofern ließen sich die Jahre der Republik auch als Vorgeschichte der NS-Zeit deuten. Noch im März 1941 lebten in Breslau über 9000 Jüdinnen und Juden. Mehrere Massendeportationen überlebten kaum drei Dutzend Menschen (S. 250–251).

Unter dem Nationalsozialismus war die Stadt vollends zu einem „Bollwerk des Deutschen Ostens“ (S. 243) umgestaltet worden. Im Bau des neuen Regierungspräsidiums nahm dieser Auftrag konkrete Gestalt an. Biografisch verdichtet stellt der Verfasser diese Jahre in einem Porträt des Breslauer Universitätsprofessors und Ostforschers Hermann Aubin (1885–1969) dar.

Den Neuanfang in Polen als inoffizieller „Hauptstadt der Wiedergewonnenen Gebiete“ (S. 261) macht Mühle mit einer Mischung aus städtebaulichen, politischen, alltagsgeschichtlichen und künstlerischen Einblicken deutlich. Dabei steht das Kościuszko-Wohnviertel für den Wiederaufbau und die „polnische Aneignung“ (S. 265), Henryk Tomaszewski für einen bedeutenden Künstler und Theatermann aus dem polnischen Breslau. Das Ende der Volksrepublik wurde auch von der Industriestadt Breslau aus eingeläutet, wo sich antikommunistische Opposition und Solidarność stark artikulierten. Das letzte Kapitel gilt der „postsozialistischen Großstadt“ (S. 303), die der politischen und wirtschaftlichen Transformation unterlag, doch zugleich ihre Vergangenheit neu entdeckte. Der Anspruch auf Mitsprache an zeitgenössischer Stadtentwicklung verkörpert sich im sogenannten Sky Tower, dem mit 212 Meter höchsten Wohngebäude Polens.

Heute ist Breslau, die viertgrößte Stadt des Landes, nicht zuletzt eine pulsierende Wissenschafts- und Universitätsstadt mit Parkanlagen und einer wiederbelebten Alt- und Kernstadt. Eduard Mühles Schilderung des historischen Werdegangs Breslaus vermittelt ein lebendiges, anschauliches Bild und macht zudem deutlich, warum die Stadt zu den attraktivsten europäischen Metropolen gezählt wird. Zwei Karten zeigen die Innenstadt des heutigen Wrocław und einen (nur polnisch beschrifteten) Lageplan des 14. Jahrhunderts. Wer an weiteren solchen Materialien interessiert ist, dem sei der historische Städteatlas Breslau empfohlen, den das Herder-Institut 2016 in mehreren Sprachen herausgebracht hat (Historisch-topographischer Atlas schlesischer Städte. Band 5: Wroc­ław/Breslau. Hrsg. von Peter Haslinger [u.a.]. Redaktion: Dariusz Gierczak. Marburg 2016).

Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn

Zitierweise: Klaus-Peter Friedrich über: Eduard Mühle: Breslau. Geschichte einer europäischen Metropole. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2015. 387 S., 46 Abb., 2 Ktn. ISBN: 978-3-412-50137-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Friedrich_Muehle_Breslau.html (Datum des Seitenbesuchs)

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