Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 152-153

Verfasst von: Klaus-Peter Friedrich

 

Hans Mommsen: Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa. Göttingen: Wallstein, 2014. 234 S. ISBN: 978-3-8353-1395-8.

Hans Mommsens Band bietet eine gedrängte Gesamtdarstellung der komplexen Zusammenhänge, die zum nationalsozialistischen Judenmord geführt haben. Dabei lässt er sich von der entscheidenden Fragestellung leiten, warum und unter welchen Begleitumständen die jeweiligen Einzelschritte – von der Diffamierung und gesellschaftlichen Isolierung der Juden bis hin zu ihrer Ermordung – vollzogen wurden. In neun Kapiteln beschreibt Mommsen diese Etappen, skizziert zunächst die Judenfeindschaft in der Weimarer Republik und ihre Rolle beim Aufstieg der NSDAP. Sodann schildert er, wie das NS-Regime die Verfolgung der Juden von 1933 an radikalisierte – bis hin zu ihrer ständig perfektionierten Ausgrenzung und Entrechtung: durch die Nürnberger Gesetze, die „Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft“ (S. 67) und die Gewaltexzesse um den 9. November 1938 herum, in denen „die öffentliche Herabwürdigung des Judentums in Deutschland“ (S. 87) zum Ausdruck gekommen sei. Hiermit schlug der Rassenantisemitismus zugleich in massenhaften Mord um, der durch die deutsche Justiz nicht geahndet wurde. Zehn Monate später setzte sich dies in einem weit größeren Umfang bei der Eroberung Polens fort, obwohl zunächst noch die „Umsiedlung der Juden und die Fiktion einer ,territorialen Endlösung‘“ (Kapitel 6) auf der Agenda der führenden Nationalsozialisten stand, die Millionen Juden in Reservate pferchen oder nach Madagaskar deportieren wollten. Mit dem „,Rassenvernichtungskrieg‘ gegen die Sowjetunion“ (S. 131) kamen neue Ziele für ein Umsiedlungsprojekt auf den Tisch, doch verflüchtigte sich dieses zur gleichen Zeit auch schon wieder – nicht zuletzt als Folge der konkreten deutschen Kriegführung, der bis Ende 1941 bei unablässigen, alltäglich verübten Massakern an ungezählten Orten Hunderttausende Juden zum Opfer fielen. Während diese andauerten, schufen Hitlers und Himmlers Vertraute im Generalgouvernement und im Warthegau aus eigenem Antrieb die Voraussetzungen, eine noch weit größere Anzahl in eigens errichteten speziellen Tötungszentren kurzerhand mithilfe von Giftgas zu ermorden. Das längste Kapitel widmet Mommsen daher dem „europäischen Osten als Schauplatz der Ermordung der Juden“ (S. 152), dem noch ein Abschnitt über die Funktion des Lagers Auschwitz folgt. Zur Mordstätte für die Juden aus Mittel- und Westeuropa konnte Osteuropa freilich nur werden, weil die Deportationen mit der Eisenbahn reibungslos verliefen, während Transportmittel für den totalen Kriegseinsatz eigentlich unentbehrlich waren.

Die Stärken des Bands liegen eindeutig in der oft auf die Ergebnisse eigener Forschungen gestützten, ebenso sachkundigen wie knappen Beschreibung der Entwicklungen in Deutschland während der Vorkriegsjahre. Treffend sind etwa Mommsens Ausführungen über die spontanen Übergriffe, wobei „die Ministerien gedrängt wurden, illegales Vorpreschen der radikalen Gruppen nachträglich zu sanktionieren“, oder über die Ermutigung „antisemitischer Scharfmacher“, denen es darum ging, „immer wieder vollendete Tatsachen zu schaffen und unter Berufung auf angebliche Proteste in der Öffentlichkeit gegen den Einfluss von Juden schärfere Maßnahmen zu fordern“ (S. 43).

Auch einige Schwächen fallen ins Auge, darunter redundante und sich wiederholende Formulierungen (beispielsweise S. 16–18, 43, 53–54, 91, 112, 174), unklare oder widersprüchliche Angaben zu Prozentzahlen (S. 39) und zu angeblich „sich häufenden Massakern [an Juden] in Westpreußen“ (S. 187) oder zu Juden als Partisanen (S. 174). Mit dem Ortsnamen „Samoisk“ ist offenbar Zamość gemeint. Das „berüchtigte Konzentrationslager an der Janowska-Straße in Lublin“ (S. 157) befand sich in Lemberg (so richtig S. 158), wohingegen das Lubliner Lager an der Lipowa-Straße gelegen war. Der Höhere SS- und Polizeiführer im Generalgouvernement Krüger wird nicht bei der Ersterwähnung (S. 169), sondern erst auf der folgenden Seite eingeführt. Im Oktober 1941 ging es nicht um den „Ausbau des Vernichtungslagers Bełżec“ (S. 161), sondern allenfalls um Vorbereitungen für dessen Errichtung, denn nicht vor Anfang November 1941 traf dort ein damit beauftragtes deutsches Kommando ein. SS-Sturmbannführer Rolf-Heinz Höppner (1910–1998) wollte das von ihm Mitte 1941 in Vorschlag gebrachte Großgetto keineswegs „in der Nähe des Kohlereviers“ (S. 162), sondern an der „Kohlenmagistrale“ errichten, also an der Bahnlinie, die von Oberschlesien durch den Warthegau zum Ostseehafen Gdingen verlief – sie kreuzte östlich von Koło die Strecke Warschau–Posen, und unweit davon wurde im November 1941 das Vernichtungslager Kulmhof/Chełmno errichtet. Die Rede von der „Grenzenlosigkeit des Terrors“ (S. 212), der gegen Judenhelfer ausgeübt worden sei, übertüncht die erheblichen Unterschiede bei der nationalsozialistischen Verfolgung und Ahndung der Judenhilfe zwischen Mittel-, West- und Ost(mittel)europa sowie innerhalb Osteuropas. Der fränkische Gauleiter Karl Holz beging nicht 1938/39 Selbstmord (S. 79, 91), sondern starb erst am 20. April 1945. Die Lage der Juden in Belgien, Frankreich, Jugoslawien, den Niederlanden und Ungarn wird weitgehend vernachlässigt, ebenso wenig wird die Rettung des Großteils der dänischen und bulgarischen Juden erwähnt.

Störend wirkt der häufig fehlende Gebrauch von Anführungszeichen bei spezifischer NS-Terminologie wie Mischling(sfrage), Führer, Halb-, Achteljuden usw. Die Bezeichnung des Judenmords als „Liquidierung“ ist ebenso unpassend wie die Rede von der „Judenvernichtung“ oder gar „Vernichtung des Judentums“ (S. 208), denn bei Letzterer begeben wir uns unnötigerweise in die Niederungen der nationalsozialistischen Diktion. Einer (noch) besseren Lesbarkeit steht die Verwendung ungebräuchlicher Begrifflichkeit entgegen, allen voran die überstrapazierte Rede von der kumulativen Radikalisierung (S. 82) bzw. einer ebensolchen Wirkung (S. 89) und Verschärfung (S. 102) oder auch von kumulativen Maßnahmen (S. 113, 114).

Der Band von Hans Mommsen ist aus einer bloßen Überarbeitung seines 2002 in München erschienenen Buchs Auschwitz, 17. Juli 1942. Der Weg zur europäischen ,Endlösung der Judenfrage‘ hervorgegangen. Wohl deswegen ist die Darstellung nicht immer auf dem neuesten Forschungsstand, denn Mommsen hat kaum jüngere Literatur zum Thema ausgewertet. Dieser wäre etwa zu entnehmen gewesen, dass im November 1938 in Deutschland mehr als 91 Juden ermordet und weit über 25.000 in Konzentrationslager verschleppt wurden.

Dass Mommsen im abschließenden, zehnten Kapitel Der Holocaust und die Deutschen (S. 204) sich von den Hauptkriegsverbrechern abwendet und Schuld und Verantwortung der vielen anspricht, die das Vernichtungswerk an den europäischen Juden durch Mittäterschaft, Unterstützung, Mitwisserschaft, durch Geschehen-Lassen und Nicht-Verhindern mit ermöglichten, trifft auch heute noch einen empfindlichen Nerv der Erinnerungskultur hierzulande. Dabei ist der Schluss nachvollziehbar, wonach die Versäumnisse in der deutschen Gesellschaft sehr früh anzusetzen sind – „dass es darum hätte gehen müssen, den Anfängen der Gewalt gegen Juden entgegenzutreten“ (S. 212). Damit stellen sich einmal mehr brennende Fragen an die politische Kultur in der ersten – chancenlosen – Republik von Weimar und an das heftige Schwanken zwischen Abscheu und Begeisterung, das die Bilder von Osteuropa seinerzeit hervorriefen.

Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn

Zitierweise: Klaus-Peter Friedrich über: Hans Mommsen: Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa. Göttingen: Wallstein, 2014. 234 S. ISBN: 978-3-8353-1395-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Friedrich_Mommsen_Das_NS-Regime.html (Datum des Seitenbesuchs)

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