Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 173

Verfasst von: Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn

 

Stephanie Kowitz-Harms: Die Shoah im Spiegel öffentlicher Konflikte in Polen. Zwischen Opfermythos und Schuldfrage (1985–2001). Berlin, Boston: de Gruyter, 2014. 247 S. = Europäisch-jüdische Studien. Beiträge, 4. ISBN: 978-3-11-027437-0.

Seit den achtziger Jahren war Polen wiederholt Schauplatz öffentlicher Konfrontationen über den eigenen Standpunkt zum nationalsozialistischen Judenmord. Dabei ging es um Vorwürfe einer moralischen oder gar aktiven Schuld von Angehörigen des polnischen Volks „im Hinblick auf die Judenvernichtung“ (S. 213), die umso schwerer wogen, als sie im Gegensatz zu einem historisch gewachsenen  Helden- und „Opfermythos“ standen. Stephanie Kowitz-Harms möchte darlegen, wie die polnische Gesellschaft mit diesem von der Autorin festgestellten Widerspruch umgegangen ist.

Nach einer Einleitung über den „theoretischen Rahmen“, in der an Elias Canettis Idee eines „Massensymbols“ angeknüpft wird, folgen Begriffsdefinitionen und ein Rückblick auf das 19. Jahrhundert. Sodann zeichnet die Verfasserin unter „Diskussionen“ verschiedene Stationen nach, an denen – ihrer Meinung nach – die „Shoah“ in Polen Anlass für „öffentliche Konflikte“ gewesen ist: von den publizistischen Debatten der achtziger Jahre bis zur hitzigen Auseinandersetzung anderthalb Jahrzehnte später über das Massaker von 1941 in Jedwabne. Im folgenden Kapitel stehen die „Argumentationsstrategien“ im Mittelpunkt mit Bezug auf die drei Aspekte Judenrettung, Antipolonismus und den Vorwurf, Juden hätten stets den Kommunismus unterstützt. Die von ihr ausgewählten Schlüsselbeiträge von Claude Lanzmann (1985), Jan Błoński (1987), Michał Cichy (1994) und Jan Gross (2001) werden dabei jeweils analysiert und ausgiebig zitiert und zu ausgewählten Presseartikeln aus Polen in Beziehung gesetzt. Somit legt die Verfasserin eine vergleichsweise ausführliche Zusammenfassung der sie interessierenden publizistischen Auseinandersetzungen vor, wie es sie in deutscher Sprache bislang nicht gegeben hat.

Die Verfasserin erklärt, das „zentrale Thema“ ihrer Untersuchung sei „die nationalsozialistische Judenvernichtung auf polnischem Boden“, also ein „Aspekt der polnischen Vergangenheit“, der „von wechselseitiger Unwissenheit überschattet worden“ sei (S. 22). Am Ende ist der Verfasserin freilich entgegenzuhalten: Es geht bei den Debatten vom Ausgang des kommunistischen Regimes in Polen bis „Jedwabne“ eigentlich nicht um Juden oder den von Deutschen im besetzten Polen ins Werk gesetzten Judenmord, sondern vielmehr darum, wie sich das polnisch-jüdische Verhältnis unter den Bedingungen gestaltete, die beiden Volksgruppen seit 1939 aufgezwungen wurden. Also um die Frage: Haben sich die Polen – wie im Widerstand gegen deutschen Eroberungsdrang – auch hier ,bewährt‘? Und zugleich um die Zweifel daran, zunächst von einzelnen kritischen Geistern, dann auch seitens der Nachgeborenen, die das darüber Mitgeteilte nicht in Übereinstimmung zu bringen vermochten mit Geschehnissen, für die nachweislich Polen die Verantwortung trugen. Das heißt, die Auseinandersetzungen hatten stets auch mit Antisemitismus zu tun – dem der Zwischenkriegsjahre, dem von den nationalsozialistischen Machthabern instrumentalisierten, dem der unmittelbaren Nachkriegsjahre, sowie mit den Ausprägungen, in denen er danach weiter existierte, und mit den Tabus, die die Volksrepublik einer freien Rede auferlegte. Letztendlich sind diese Fragen eng verbunden mit dem Selbstverständnis polnischer Identität beziehungsweise dem Wandel, den dieses am Ende der Nachkriegszeit durchgemacht hat. Folglich dürfte man mehr Erkenntnisse zu diesem Punkt erwarten als die knappen Ausführungen über das „Identitätskonzept“ (S. 211 ff.) hergeben.

Wenig hilfreich ist es, wenn Kowitz-Harms „Historische Hintergründe“ jeweils im Schnelldurchgang abhandelt und auch die umfangreichen „Reaktionen polnischer Historiker“ in der Debatte um Jedwabne auf dreieinhalb Seiten verknappt. Die Angaben zur Opferzahl von Juden und Nicht-Juden aus Polen während der NS-Besatzung sind nicht stimmig (vgl. S. 38, 46). „Polen“ gab keineswegs „bereits Anfang Oktober [1939] seine Kapitulation bekannt“ und war auch nicht „fünfeinhalb Jahre“, sondern – in den östlichen Landesteilen – gerade einmal zweieinhalb Jahre „von deutschen Truppen besetzt“ (S. 37). Der von der Autorin zitierte angeblich „genaue Wortlaut“ der Verordnung über Aufenthaltsbeschränkungen im Generalgouvernement vom 15. Oktober 1941 (S. 122) entspricht nicht dem amtlichen Original. Dass zu den als szmalcownicy bezeichneten Erpressern von Juden auch jene zählten, die Juden Zuflucht gewährten (S. 90), ist unzutreffend – ebenso wie die Behauptung, die Deutschen hätten erst nach dem 2. Oktober 1944 mit der systematischen Zerstörung Warschaus begonnen (S. 82, Anm. 110). Unkenntnis grundlegender Gegebenheiten aus der jüdischen Geschichte Polens im 20. Jahrhundert schlägt sich zuweilen in grob vereinfachenden und mehrfach irreführenden Behauptungen nieder (siehe S. 44 über die Lage von 1939 an: „Die Juden werden von den deutschen Soldaten in Ghettos zusammengetrieben und vor den Augen der polnischen Bevölkerung ermordet.“). Der Publizistik entlehnt ist dieses oft aufdringlich wirkende historische Präsens. Hinzu kommen vergleichsweise viele Druckfehler und stilistische Unzulänglichkeiten (etwa S. 210, wo es heißt, es lasse sich „keine Abkehr […] des [sic!] polnischen Martyriums erkennen“, oder S. 217: Es „hätten vielen [sic!] Polen Angst vor der Rückgabe jüdischen Eigentums und der Aufdeckung unwürdigen Verhaltens während des Zweiten Weltkrieges gehabt“). An einer Stelle scheint gar eine Notiz aus dem Manuskript stehen geblieben zu sein (S. 12, Anm. 41). Mit dem hier allgegenwärtigen Begriff „Judenvernichtung“ sollte die Verfasserin sorgsamer umgehen, da es sich auch um ein Wort der NS-Propaganda handelt. Die Forschungsliteratur berücksichtigt Kowitz-Harms nur selektiv. Zudem ist anlässlich ihres zweiten Buchs zum „polnischen Opfermythos“ (vgl. Stefanie Kowitz: Jedwabne. Kollektives Gedächtnis und tabuisierte Vergangenheit. Berlin 2004; dazu auch Klaus-Peter Friedrich: Deutsche Stimmen zur „Jedwabne“-Debatte in Polen. Eine Bilanz, in: Zeitschrift für Genozidforschung 6 (2005), 2, S. 8–41) einmal mehr darauf hinzuweisen, dass es hier weniger um einen Mythos, sondern um ein ausgeprägtes und anhaltendes Opferbewusstsein geht. Und dieses machte sich auch unter antisemitischem Vorzeichen bemerkbar, wobei Polen sich nicht nur von Deutschen und Russen, sondern auch von ‚den Juden‘ verfolgt sahen. Unbelegt ist die Behauptung, Kritiker des „Opfermythos“ hätten gefordert, „dass sich die polnische Nation […] einer umfassenden Umerziehung unterziehen müsste“ (S. 212). Kritikwürdig ist ferner, dass Rundfunk und Fernsehen, die wesentlich mehr Menschen erreichen als die von der Autorin betrachteten Presseorgane, in dieser Untersuchung völlig ausgeblendet werden.

Die „Auswertung“ am Ende lässt den Leser etwas ratlos zurück, da ihm hier kein klärendes Resümee geboten, sondern ein weiteres Buch vorgestellt wird, das sich mit der Erinnerungskultur unserer östlichen Nachbarn kritisch auseinandersetzt. Abschließend geht es um Umfrageergebnisse. Waren 2008 lediglich 6 % der Teilnehmer einer Meinungsumfrage „der Ansicht, dass ,nur wenige Polen Juden gerettet, aber viele sie verfolgt haben‘“ (S. 220), so dürfte sich diese Zahl in Zukunft weiter erhöhen. Denn die Forschungsarbeiten der letzten anderthalb Jahrzehnte – vor allem aus Polen – haben zahlreiche neue, belastbare Fakten zum polnisch-jüdischen Verhältnis an den Tag gebracht. Schade nur, dass sie in dieser Darstellung so wenig gewürdigt werden.

Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn

Zitierweise: Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn über: Stephanie Kowitz-Harms: Die Shoah im Spiegel öffentlicher Konflikte in Polen. Zwischen Opfermythos und Schuldfrage (1985–2001). Berlin, Boston: de Gruyter, 2014. 247 S. = Europäisch-jüdische Studien. Beiträge, 4. ISBN: 978-3-11-027437-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Friedrich_Kowitz-Harms_Die_Shoa_im_Spiegel_oeffentlicher_Konflikte.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2015 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg and Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.