Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 3, S. 521-522

Verfasst von: Klaus-Peter Friedrich

 

Michaela Kipp: „Großreinemachen im Osten“. Feindbilder in deutschen Feldpostbriefen im Zweiten Weltkrieg. Frankfurt a.M., New York: Campus, 2014. 493 S. ISBN: 978-3-593-50095-9.

Seit den 1980er Jahren hat sich in Deutschland bei der zweiten Nachkriegsgeneration ein zunehmendes Interesse für die Mitteilungen in den persönlichen Briefen entwickelt, welche Hitlers ganz gewöhnliche Soldaten von den Schauplätzen des nationalsozialistischen Welteroberungskriegs nach Hause schickten. Vielen gelten sie als hochauthentische Quelle, um Gedanken, Wahrnehmungen, Erwartungen und Gefühlserfahrungen der einfachen Soldaten zu ergründen. Zudem dienten sie in der Forschung dazu, die Brutalisierung der Kriegführung am Einzelnen und im Gruppenverband nachvollziehbar zu machen – und inwieweit das Kampfpersonal dabei mitmachte.

Man schätzt, dass allein von deutschen und österreichischen Soldaten im Ganzen etwa 33 Milliarden Feldpostbriefe verfasst wurden. Die meisten sind nicht überliefert, doch Millionen sind erhalten geblieben und bieten heute das Material sowohl für eine neue Militärgeschichte als auch für einen wachsenden Zweig der Alltagsgeschichte des Zweiten Weltkriegs. Die meisten Briefe befinden sich in verschiedenen Feldpost(brief)-Sammlungen deutscher Staats- und Stadtarchive und in der Stuttgarter Bibliothek für Zeitgeschichte.

Michaela Kipp hat den Inhalt von rund 7000 ausgewählten Feldpostbriefen ausgewertet. Die daraus entstandene Dissertation wurde 2009 an der Universität Bielefeld angenommen und liegt nun in einer gestrafften Darstellung vor. Mit ihrer umfangreichen Untersuchung von Feindbildern in deutschen Feldpostbriefen des Zweiten Weltkriegs leistet die Autorin einen willkommenen, fundierten Beitrag zur fortlaufenden Debatte um die Einstellungen und die Beweggründe für das Handeln der Soldaten. Sie gelangt zu dem – nicht unbedingt überraschenden – Ergebnis, dass die Eroberer und Besatzer Osteuropas sich in erster Linie als Repräsentanten von „Ordnung und Sauberkeit“ sahen, dass sie sich in einem „Krieg gegen das Chaos“ (S. 135) wähnten. Die Zuschreibung von den Alltag prägendem, verbreitetem Schmutz und von Verwahrlosung war Bestandteil der nationalsozialistischen antisowjetischen wie auch der antijüdischen Propaganda. Und mit diesem Grundmotiv korrespondierte auch die NS-Propaganda vom (zivilisatorischen) „Aufbau“ der angeblich unterentwickelten und durch das Kriegsgeschehen – nach 19141921 einmal mehr – verwüsteten Landstriche. Diese Propaganda stand im Einklang mit den traditionellen Selbstzuschreibungen eigener Tugenden wie Fleiß, Treue, Gehorsam, Disziplin, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit sowie mit dem ebenfalls nicht neuen Diskurs um Hygiene und Seuchenbekämpfung.

Die Analyse zeigt nun, dass sich normale deutsche Männer an Kriegsverbrechen gegen die Bevölkerung der osteuropäischen Länder insbesondere deswegen beteiligten, weil ihr Ekel erregt wurde, sie sich vom Schmutz, dem sie bei vielen Einheimischen begegneten, abgestoßen fühlten. Vergleichsweise geringen Wert legten sie auf landläufige Bestandteile der NS-Ideologie. Sie hatten genug damit zu schaffen, ihre im Einsatzgebiet gewonnenen Eindrücke dem eigenen Erfahrungshorizont einzupassen – eine „sinnstiftende Aneignung von Wirklichkeit“ herbeizuführen (S. 11).

Das Grundmotiv war freilich eingebettet in einen gesellschaftlichen Kontext, der zur „Radikalisierung des Sagbaren“ führte (S. 181). In der täglichen Gewaltpraxis mündeten diese Dispositionen in die „Radikalisierung des Machbaren am Einsatzort“ (S. 335). Dabei galt auch in der Wehrmacht „Antisemitismus als Dienstpflicht“ (S. 349). Inhumane Sprachmuster bereiteten die Einübung von Gewalt vor, so dass es nicht mehr weit war von der allgemein akzeptierten, den Erfordernissen der Hygiene geschuldeten Ungeziefervernichtung (durch Vergasung) zum Mord an Millionen von pauschal Entrechteten, Unerwünschten, als Untermenschen betrachteten (Kriegs-)Gefangenen.

Ein kleiner Abschnitt ist den Antwortbriefen der Ehefrauen, Kinder und Mütter vorbehalten, in denen sich die Klischees vom „Osten“ mit aller Wucht niederschlugen; diese reichten teils in den Ersten Weltkrieg, teils noch weiter zurück. Hier überwog die nationalsozialistische Deutung des Weltkriegs, die Enttäuschung über die von den siegreichen Westalliierten nach dem Ersten Weltkrieg erzwungene Wiederaufgabe des unterworfenen Osteuropas.

Am Ende drängt sich der Eindruck auf, dass die „Quelle Feldpost“ weiterhin eine „Herausforderung für die Kriegsgeschichte“ (S. 35) unter dem Nationalsozialismus bleiben wird – besonders, wenn wir auch danach fragen, welche persönlichen Erfahrungshintergründe die Soldaten (einschließlich der an Kriegsverbrechen Beteiligten) in den Korrespondenzen ausklammerten. Denn wer nun dem Trugschluss unterliegen sollte, dass die damaligen Deutschen als ein Ausbund an Reinlichkeit und Ordnung gelten konnten, mag in die jenen Jahren entstammenden Akten eines gut sortierten (west-)deutschen Landratsamts Einblick nehmen, wo Berichte zum Thema „Gesundheitspolizei und Gesundheitspflege“ abgelegt sind oder wo die betreffenden Stellen der Deutschen Arbeitsfront über ihre Kontrollen („Betriebsbesuche“) im ländlichen Raum, etwa bei Metzgern, Rechenschaft ablegen. Daraus erhellt, dass Hitlers Deutschland und die von ihm protegierten „arischen“ Handwerker keineswegs stets ein Hort von Reinlichkeit waren. Nicht selten wurden schmutzstarrende und verwahrloste Betriebe aufgrund einer Einberufung zum Kriegsdienst geschlossen, der Zustand in anderen nur aufgrund von Strafanzeigen durch strenge Auflagen gebessert.

Klaus-Peter Friedrich, Marburg

Zitierweise: Klaus-Peter Friedrich über: Michaela Kipp: „Großreinemachen im Osten“. Feindbilder in deutschen Feldpostbriefen im Zweiten Weltkrieg. Frankfurt a.M., New York: Campus, 2014. 493 S. ISBN: 978-3-593-50095-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Friedrich_Kipp_Grossreinemachen_im_Osten.html (Datum des Seitenbesuchs)

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