Samuel D. Kassow Who Will Write Our History? Emanuel Ringelblum, the Warsaw Ghetto, and the Oyneg Shabes Archive. Indiana University Press Bloomington, IN 2007. XV, 523 S., Abb., Kte. = The Helen and Martin Schwartz Lectures in Jewish Studies.

Samuel Kassow untersucht erstmals eingehend ein faszinierendes Unternehmen unter der nationalsozialistischen Besatzung Polens während des Zweiten Weltkriegs. Unmittelbar nach der Schließung des Warschauer Gettos taten sich Aktivisten aus der jüdischen inteligencja zusammen, um ein Untergrundarchiv ins Leben zu rufen. Sie gaben ihm nach den allwöchentlichen Besprechungsterminen am Samstagnachmittag den hebräischen Decknamen „Oneg Schabbat“ (jidd. Oyneg Shabes; dt. Freuden des Schabbat).

Der Kreis stellte sich die Aufgabe, verschiedene Aspekte des Alltagslebens der jüdischen Bevölkerung unter der Besatzung abzubilden. Sie bedienten sich dabei der Methoden, die am Wilnaer Jiddischen Wissenschaftlichen Institut (das bis heute als YIVO in New York weiter besteht) entwickelt worden waren: Die Mitarbeiter von Oneg Schabbat, deren Zahl mit der Zeit auf mehrere Dutzend anwuchs, sammelten nicht nur Archivgut, sondern initiierten das Abfassen von Zeugenberichten, und sie befragten Augenzeugen systematisch nach ihren Erlebnissen, um solche Erfahrungen in Protokollen oder Zusammenfassungen aufzubewahren. Teilweise nutzten sie diese Materialien für sehr zeitnahe alltags-, wirtschafts- oder mentalitätsgeschichtliche Abhandlungen. Seit Ende 1941 übernahm Oneg Schabbat außerdem die Funktion eines Nachrichten- und Dokumentationszentrums, das Meldungen über die systematische Ermordung der Juden Polens sammelte und darüber auf unterschiedliche Weise Mitteilung machte. Hatten sich die Mitglieder des Kreises zunächst und hauptamtlich in der politischen, kulturellen und Fürsorgearbeit engagiert und damit die Selbstbehauptung der Verfolgten gefördert, so näherten sie sich seit Sommer 1942 der Position der Jugendbünde und befürworten den bewaffneten Widerstand.

Die Überlieferung des Untergrundarchivs, die im Sommer 1942 und im Winter 1943 an mindestens zwei Stellen vergraben wurde und nach 1945 zum großen Teil wieder geborgen werden konnte, bildet heute den wichtigsten Bestandteil der Sammlungen des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau.

Für seine Untersuchung wählt Kassow den naheliegenden (werk-)biografischen Zugang über den Mitbegründer und Leiter des Archivs Emanuel Ringelblum, dessen Lebensweg er in den ersten Kapiteln nachzeichnet. Aus der ostgalizischen Kleinstadt Buczacz stammend, floh seine Familie zu Beginn des Ersten Weltkriegs nach Nowy Sącz. Ringelblum siedelte schließlich nach Warschau über, wo er ein Geschichtsstudium begann. 1927 promovierte er mit einer bahnbrechenden, marxistisch beeinflussten Arbeit über die Warschauer Juden im Mittelalter.

Ringelblum war danach als Lehrer an Schulen mit jiddischer Unterrichtssprache und im Warschauer Zweig des Jiddischen Wissenschaftlichen Instituts tätig. 1938/39 betätigte er sich als Vertreter der amerikanischen Hilfsorganisation Joint Jewish Distribution Committee in Zbąszyń. Hier war ein Grenzauffanglager eingerichtet worden, wo sich Tausende Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit aufhielten, die nach dem 9. November 1938 aus NS-Deutschland vertrieben worden waren. Politisch betätigte er sich in der zionistisch-sozialistischen Arbeiterpartei Poale Zion-Linke. Noch im August 1939 besuchte Ringelblum mit Parteigenossen den (21.) Zionistenkongress in Genf; nur auf schwierigen Umwegen konnte er nach Polen zurückkehren (S. 104).

Zu Kriegsbeginn durchlebte er, wie Warschau belagert und ein Teil der Stadt zerstört wurde. Die deutschen Besatzer schränkten die sozialen Freiräume der jüdischen Warschauer, die etwa ein Drittel der Einwohner bildeten, ständig weiter ein. Seit Herbst 1940 fielen Zehntausende Gettoinsassen der planmäßigen Mangelversorgung mit Lebens- und Arzneimitteln zum Opfer, während immer mehr Menschen aus dem Stadtgebiet und dem Warschauer Umland – ihres Lebensunterhalts und eines Großteils ihres Besitzes beraubt – in wenigen Straßenzügen zusammengepfercht wurden. In Kapitel 4 schildert Kassow Ringelblums Arbeit für die Jüdische Soziale Selbsthilfe (jidd. Aleynhilf), der die Besatzungsmacht die gesamte Last der Fürsorge für die jüdische Bevölkerung aufbürdete. Von Ende 1940 an bildete sich die „Kameradschaft“ („band of comrades“, Kap. 5) heraus, welche gemeinsam die Agenda des Untergrundarchivs bestimmte; dazu gehörten der Unternehmer Szmuel Winter aus Włocławek, der Rabbiner Szymon Huberband aus Piotrków, der Lehrer Israel Lichtensztajn, der Ökonom Menachem Linder, die Schriftstellerin Rachel Auerbach und der Sekretär des Archivs, Hersz Wasser. In einem weit ausgreifenden Ansatz, der verschiedene jüdische Lebenswelten, Wissensdisziplinen und politische Richtungen einschloss, arbeiteten sie daran, die „unterschiedlichen Stimmen des polnischen Judentums“ einzufangen (Kap. 6). Eine Auswahl der überlieferten Texte stellt der Verfasser in Kapitel 7 ausführlich vor.

Im vorletzten Abschnitt verfolgt Kassow auf eindrucksvolle Weise nach, wie Ringelblum und seine Mitstreiter auf die „Hiobs­bot­schaf­ten“ reagierten, die das Untergrundarchiv zunächst aus Wilna, dann aus Chełmno/Kulmhof im Warthegau und im März 1942 auch aus dem Generalgouvernement (Lublin) erreichten. Mit dem Beginn der großen Vernichtungsaktion in Warschau im Juli 1942 musste Oneg Schabbat seine Tätigkeit nahezu einstellen; ein Teil der Dokumente wurde nun vergraben. Erst im Herbst, als sich das Getto in ein großes Arbeitslager verwandelt hatte, belebten die am Leben gebliebenen Mitarbeiter die Dokumentationsarbeit wieder.

Ringelblum verfasste auf Jiddisch eine Tageschronik, in der er zahllose Nachrichten, die ihn unablässig erreichten, festhielt und kommentierte. Darüber hinaus schrieb er über wichtige Personen und Themen. Bis zu seinem Tod arbeitete er an einer (auf Polnisch verfassten) Abhandlung über die polnisch-jüdischen Beziehungen unter der Besatzungsherrschaft. Im Februar 1943 ging er auf die „arische Seite“ Warschaus, doch befand er sich bei Beginn der deutschen Vernichtungsaktion auf Besuch im Getto. So wurde er zum Augenzeugen der ersten Feuergefechte, als die Aufständischen gegen die Angreifer vorgingen und sie zu Straßen- und Häuserkämpfen zwangen. Kurz darauf wurde er festgenommen und in das Arbeitslager Trawniki deportiert. Nach seiner (von außen organisierten) Flucht aus dem Lager drei Monate später lebte er mit anderen Leidensgenossen in einem engen unterirdischen Schutzraum im Süden Warschaus. Nachdem das Versteck verraten worden war, wurde er im März 1944 im Alter von 43 Jahren von der Gestapo erschossen.

Wenngleich bis auf Auerbach und Wasser keiner von Ringelblums Mitstreitern die Besatzungsjahre überlebte, haben sie die Auseinandersetzung um die Geschichtsschreibung doch für sich entschieden. Nicht zuletzt dank den von ihnen gesammelten und erarbeiteten Materialien sind die ungeheuerlichen Mechanismen des nationalsozialistischen Judenmords in Polen offengelegt worden. Diese Erkenntnisse übermittelten sie an die polnische Regierung in London und damit auch an deren Verbündete, so dass Ende 1942 die Öffentlichkeit in den alliierten und den neutralen Ländern über den Genozid unterrichtet war. Die Forschung hat inzwischen herausgearbeitet, weshalb die Bemühungen des Oneg-Schabbat-Kreises dem nationalsozialistischen Judenmord selbst dann keinen Einhalt gebieten konnten. Sie hat es dabei lange an Nachforschungen darüber fehlen lassen, welche Menschen hinter diesen Bemühungen standen. Samuel Kassow ist es gelungen, diese Lücke in einer gut lesbaren und fundierten Darstellung in erheblichem Maße zu schließen.

Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn

Zitierweise: Klaus-Peter Friedrich über: Samuel D. Kassow: Who Will Write Our History? Emanuel Ringelblum, the Warsaw Ghetto, and the Oyneg Shabes Archive. Indiana University Press Bloomington, IN 2007. = The Helen and Martin Schwartz Lectures in Jewish Studies. ISBN: 978-0-253-34908-8, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Friedrich_Kassow_Who_will_write.html (Datum des Seitenbesuchs)