Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 4, S. 657-659

Verfasst von: Klaus-Peter Friedrich

 

Imke Hansen: „Nie wieder Auschwitz!“ Die Entstehung eines Symbols und der Alltag einer Gedenkstätte 1945–1955. Göttingen: Wallstein, 2015. 310 S., 49 Abb. = Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert, 9. ISBN: 978-3-8353-1630-0.

Die historische Forschung interessiert sich seit geraumer Zeit nicht nur für die nationalsozialistischen Verbrechen, sondern auch dafür, in welchen Konjunkturen sich das Gedenken an sie herausbildete. Was Auschwitz betrifft, haben diesen Prozess schon Jonathan Huener und Zofia Wóycicka in erstklassigen Studien beleuchtet. Imke Hansen möchte darüber hinausgehen und dem Leser die „Entstehung eines Symbols und de[n] Alltag einer Gedenkstätte“ im ersten Nachkriegsjahrzehnt kulturwissenschaftlich verdeutlichen. In diesem Sinne erläutert sie einleitend ihr Verständnis der „Repräsentationen von Geschichte“ im Zusammenspiel von „Akteure[n], Konzepte[n] und Narra­tive[n]“ (S. 13). Im ersten Hauptteil kommen somit die von 1945 bis 1955 auf nationaler Ebene tätigen, mit der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen in Polen befassten historischen Einrichtungen und Gremien im politischen Kontext der sich durchsetzenden kommunistischen Herrschaft und eines im Land grassierenden Antisemitismus in den Blick. Diese Bemühungen schlugen sich, wie die Verfasserin zeigen kann, in spezifischen Narrativen oder Interpretationen nieder, mit denen die Opfer der NS-Gewaltpolitik – über „sinngenerierende Anknüpfungspunkte“ (S. 19) – für ganz aktuelle Absichten nutzbar gemacht wurden. Im folgenden Abschnitt beschäftigt sich Hansen damit, auf welche Weise sich das Konzentrationslager Auschwitz zum Mitte 1947 gegründeten Staatlichen Museum Oświęcim entwickelte. Daraufhin zeichnet sie die Diskurse von 1947 bis 1950 nach, darunter auch die „Pressedebatte“ darüber, „was Auschwitz sein soll[te]“ (S. 141). Das nächste Kapitel über die Jahre zwischen 1950 und 1953 gilt der stalinistischen Umgestaltung der Ausstellung, die von den Kommunisten im Zeichen der Block-Konfrontation des Kalten Kriegs vorangetrieben wurde, ehe im Abschnitt über die Mitte der 1950er Jahre der „Abschied vom Stalinismus“ (S. 250) im Mittelpunkt steht, der 1955 in einer abermals überarbeiteten Ausstellung seinen Ausdruck fand. Deren Anliegen war es u.a., die dem KZ und dem Vernichtungslager zugeführten Opfergruppen klarer zu unterscheiden. Ihre Erkenntnisse bündelt Hansen in der abschließenden Betrachtung über den „Eigensinn eines Symbols und die Eigendynamik“ der Gedenkstätte Auschwitz (S. 284).

Die Stärken dieser Untersuchung liegen in der Schilderung der mannigfaltigen Einflüssen unterworfenen Arbeitsbedingungen derjenigen, die im Rahmen des Gedenkstätten-Projekts Auschwitz mit der „Repräsentation“ der Geschichte dieses monströsen KZs beauftragt waren. Hansen verbindet ihre Perspektive mit einer Schilderung des Alltags im Museumsbetrieb. Sie rückt nicht nur die Mitarbeiter in den Vordergrund, die  überwiegend als polnische politische Häftlinge selbst im KZ Auschwitz eingesessen hatten. Hansen widmet sich auch den in Gestalt von Ausstellungen veröffentlichten Ergebnissen ihrer Tätigkeit. Letztere werden zudem durch zahlreiche Abbildungen anschaulich gemacht. Dabei stützt sich die Verfasserin auf die Überlieferung der beteiligten polnischen Institutionen.

An anderer Stelle vermisst man jedoch unverzichtbare Aspekte des Themas und die nötige Stringenz bei der konzeptionellen Durchdringung des herangezogenen Materials. Dieses ist einerseits vielgestaltig, es besteht zum anderen aber weitgehend aus der (noch) vorgefundenen behördlichen Aktenüberlieferung. Die Ausführungen zum Forschungsstand (S. 19–24) sind defizitär, was angesichts einer schier unüberschaubaren Masse von Veröffentlichungen über Auschwitz und über Prozesse der Erinnerungskultur nicht verwundern mag. Doch bleibt auch ein gewichtiger Anteil der das Untersuchungsthema direkt betreffenden Literatur – einschließlich deutschsprachiger – hier ungenannt. So wäre unbeschadet eines Eingehens auf die „Pressedebatte“ von 1947 bis 1950 zu erwarten gewesen, dass auch die diesen Jahren vorangegangenen Diskurse einbezogen werden. Überhaupt erscheint es mir kaum nachvollziehbar, wie sich die Entstehung des Symbols Auschwitz untersuchen ließe, ohne im Einzelnen die von polnischen und von jüdischen Standpunkten ausgehenden Diskurse zu analysieren, die sich seit 1940 in der Untergrundpresse im besetzten Polen nachweisen lassen. Gleich nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft hatten solche Debatten von 1944 bis 1946 noch einmal Konjunktur. Hier hätte die Verfasserin mit Gewinn auf die zu Beginn dieses Jahrhunderts vorgelegten Untersuchungen und ebenso auf Aufsätze zurückgreifen können, die in dieser Zeitschrift und in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung erschienen sind. Auf einen Beitrag nimmt sie zitierend Bezug (S. 68–69), bleibt dafür aber den Nachweis schuldig – es handelt sich um einen Aufsatz des Rezensenten über den Rückblick auf den NS-Judenmord und die Reaktion auf antijüdische Unruhen im Krakauer Wochenblatt Tygodnik Powszechny in den Jahren 1945 bis 1952. Er ist in dem in der abschließenden Bibliographie durchaus genannten, von Micha Brumlik und Karol Sauerland herausgegebenen, 2010 in Frankfurt/Main erschienenen Sammelband Umdeuten, verschweigen, erinnern. Die späte Aufarbeitung des Holocaust in Osteuropa abgedruckt (siehe dort S. 125–161).

Auch in stilistischer Hinsicht hätte die Studie durchaus eines aufmerksameren Lektorats bedurft, und zwar nicht nur im Fall von sprachlich ungelenken Übersetzungen aus dem Polnischen, darunter die Michał Borwicz zugeschriebene Äußerung über die „detailliert ausgedachte Niederträchtigkeit“ der deutschen Besatzer (S. 73). Unklar oder gar irreführend sind auch manche andere verquere Formulierungen – wie etwa: „Die Kommission wollte [1950] den industriellen Profit durch die massenhafte Ermordung und Ausbeutung der Leichen stärker akzentuieren und mit dem Hinweis versehen, dass die Produzenten von Zyklon B von amerikanischen Gerichten freigesprochen worden waren“ (S. 205). An manchen Stellen drängt sich der Eindruck auf, dass die hier veröffentlichte Fassung noch unfertig ist; so heißt es auf S. 151: „Das würde entspräche den Plänen der Nationalsozialisten […].“ Am Ende fehlt ein Register der Personen, Orte und Institutionen.

Somit liegt die Einschätzung nicht ganz fern, dass Hansens Studie, die auf einer Hamburger Dissertation beruht, möglicherweise nicht allzu lange das letzte Wort zur frühen Erinnerungskultur um „Auschwitz“ sein wird.

Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn

Zitierweise: Klaus-Peter Friedrich über: Imke Hansen: „Nie wieder Auschwitz!“ Die Entstehung eines Symbols und der Alltag einer Gedenkstätte 1945–1955. Göttingen: Wallstein, 2015. 310 S., 49 Abb. = Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert, 9. ISBN: 978-3-8353-1630-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Friedrich_Hansen_Nie_wieder_Auschwitz.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2016 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg and Klaus-Peter Friedrich. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.