Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 4, S. 623-624

Verfasst von: Klaus-Peter Friedrich

 

Das „Großdeutsche Reich“ und die Juden. Nationalsozialistische Verfolgung in den „angegliederten“ Gebieten. Hrsg. von Wolf Gruner und Jörg Osterloh. Frank­furt a.M. [etc.]: Campus, 2010. 440 S., Ktn., Abb. = Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, 17. ISBN: 978-3-593-39168-7.

Mit dem Sammelband ist eine Gesamtschau der antijüdischen Politik in den Gebieten beabsichtigt, die zwischen 1935 und 1940 an das Deutsche Reich angeschlossen wurden. Die Zusammenstellung ist dementsprechend sehr uneinheitlich, sie reicht von ausgedehnten Territorien mit mehreren Millionen Einwohnern im Osten und Südosten des Reichs bis hin zu vergleichsweise kleinräumigen Verwaltungseinheiten, vor allem im Westen (Saargebiet, Eupen-Malmedy, Luxemburg). Ihre nach Ausdehnung, Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft sehr unterschiedliche Bedeutung spiegelt sich im Umfang der einzelnen, einheitlich meist etwa 30 Seiten langen Beiträge nicht wider. Zudem bleiben eine Reihe von Verwaltungseinheiten im Osten (Suwałki/Sudauen, Bezirk Białystok) und Südosten Untersteiermark, Oberkrain) leider unberücksichtigt. Die historische Literatur in den Landessprachen der betroffenen Territorien wird nicht immer mit einbezogen.

Die Herausgeber bemühen sich in ihrer Einleitung, trotz des disparaten Bilds übergreifende Entwicklungslinien und gemeinsame Merkmale aufzuzeigen, fassen Forschungsergebnisse zusammen und benennen „offene Forschungsfelder“ (S. 43). Die einzelnen Beiträge sind standardisiert, blicken zunächst auf die Jahre vor der Annexion, dann auf die ersten Wochen der NS-Herrschaft sowie auf die weitere Entwicklung bis hin zur Auslöschung jüdischen Lebens.

Auf der Grundlage seiner Dissertation „Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938 –1945“, München 2006, befasst sich Jörg Osterloh mit der Lage der Juden im Sudetenland. Er betont, dass sich die Zwangsmaßnahmen gegen Juden „nicht von der Judenpolitik im ,Altreich‘ [unterschieden]“. Wolf Gruner schildert den Verlauf im sog. Protektorat Böhmen und Mähren, wo Hitler der willfährigen Prager Führung die Ausgestaltung der antijüdischen Politik zunächst überließ (S. 151). Der Flucht der Juden ins rettende Ausland legten die nazideutschen Behörden hier Hindernisse in den Weg. Im Memelgebiet (bearbeitet von Ruth Leiserowitz) hingegen floh die jüdische Bevölkerung ganz überwiegend nach Litauen und nach Übersee, ehe Stadt und Umland im März 1939 an das Reich angeschlossen wurden; jüdische Bürger der Freien Stadt Danzig konnten gar noch kurz vor Kriegsbeginn nach Palästina ausreisen, die Verbliebenen deportierten deutsche Polizeiformationen 1939 – wie Wolfgang Gippert im Beitrag über den Regierungsbezirk Danzig-Westpreußen ausführt – zusammen mit zahlreichen Polen nach der Eroberung in das Generalgouvernement (S. 222 f), wo sie das Schicksal der dortigen Bevölkerung teilten. Die Entwicklung im Reichsgau Wartheland zeichnet Ingo Loose nach. Der Judenmord ging hier auf persönliche Bemühungen des Reichsstatthalters und Gauleiters Arthur Greiser zurück, mit dessen maßgeblicher Unterstützung das erste Vernichtungslager in Kulmhof/Chełmno errichtet wurde. Den sog. Regierungsbezirk Zichenau betrachtet Andreas Schulz, wobei die Täter weitgehend anonym bleiben; die weiterhin wichtigste Forschungsarbeit stammt von Michał Grynberg (Żydzi w rejencji ciechanowskiej 1939–1942. Warszawa 1984), der sich vor allem auf Zeugenaussagen der Verfolgten stützte, da nur wenige Dokumente überliefert sind. Die dürftige Quellenlage und der unbefriedigende Stand der Forschung spiegeln sich in dem stellenweise unverständlichen Beitrag von Andreas Schulz wider. Sybille Steinbacher schildert schließlich die Judenverfolgung in Ostoberschlesien unter der NS-Herrschaft. Die jüdische Bevölkerung wurde hier im großen Stil zur Zwangsarbeit für die deutsche Rüstungswirtschaft herangezogen, die letzten Gettos vergleichsweise spät, nach dem Aufstand im Warschauer Getto, aufgelöst und die Insassen zur Vernichtung nach Auschwitz verschleppt.

Instruktiv ist noch der von den Herausgebern verfasste, zusammenfassende „Forschungsüberblick zu den einzelnen Gebieten“, wenngleich sich mit Bezug auf den Anmerkungsapparat der Einzelbeiträge zahlreiche Redundanzen ergeben. Fragen werfen einige der Fotos auf, deren Untertitel sich manchmal allzu wenig auf das konkret dargestellte Geschehen beziehen (S. 228, 282). So heißt es auf S. 260: „Zusammentreibung der Juden aus dem Ghetto Zichenau, 1941/42“; dabei ist die Aufnahme vor dem Schloss der Herzöge von Masowien in Ciechanów genau zu lokalisieren, und die eher leichte Kleidung lässt darauf schließen, dass die Aufnahme in der warmen Jahreszeit entstand.

Insgesamt ist die Aufsatzsammlung ein willkommenes Hilfsmittel für die vergleichende Betrachtung der NS-Judenpolitik in den Annexionsgebieten. Doch bleibt zu hoffen, dass sie als Ausgangspunkt für eine vertiefende Erforschung genutzt wird und dann auch die in dem Sammelband nicht berücksichtigten Gebiete zum Objekt gezielter Forschungsanstrengungen werden. Personen- und Ortsregister ermöglichen eine schnelle Orientierung über den Inhalt.

Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn

Zitierweise: Klaus-Peter Friedrich über: Das „Großdeutsche Reich“ und die Juden. Nationalsozialistische Verfolgung in den „angegliederten“ Gebieten. Hrsg. von Wolf Gruner und Jörg Osterloh. Frank­furt a.M. [etc.]: Campus, 2010. 440 S., Ktn., Abb. = Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, 17. ISBN: 978-3-593-39168-7, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Friedrich_Das_Grossdeutsche_Reich_und_die_Juden.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2013 by Osteuropa-Institut Regensburg and Klaus-Peter Friedrich. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.