Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 307-309

Verfasst von: Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn

 

Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944–1947. Berichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission. Hrsg. von Frank Beer, Wolfgang Benz und Barbara Distel. Berlin: Metropol, 2014. 652 S., Abb., Ktn. ISBN: 978-3-86331-149-0.

Gleich nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Polen begannen jüdische Aktivisten und Intellektuelle Dokumente zu sammeln und zu retten, in denen sich Spuren des Vernichtungswerks niederschlugen. Dazu zählte auch das Sammeln der Zeugnisse von Überlebenden, denn sie lieferten Informationen über Vorgänge und Personen, die sich auf andere Weise nicht beschaffen ließen. Den institutionellen Rahmen für diese Arbeiten boten die lokalen oder regionalen jüdischen historischen Kommissionen, die nach und nach in den – von Ost nach West – befreiten Gebieten geschaffen wurden. Diese Arbeitsgruppen setzten damit aber zugleich ein Werk fort, das in Gestalt des Untergrundarchivs im Warschauer Getto schon vor dem Höhepunkt der deutschen Gewaltherrschaft seinen Anfang genommen hatte. Auf diese Weise wurde in drei bis vier Jahren eine große Anzahl von Berichten gesammelt, archiviert und vielfach auch veröffentlicht. Die Zentrale Jüdische Historische Kommission publizierte von 1944 bis 1947 insgesamt 39 Broschüren und Bücher in polnischer und jiddischer Sprache (siehe die Liste auf S. 23–26). Sie sollten das frühe, den Zeitgenossen aus eigener Erfahrung ja noch sehr präsente Bild der Besatzungsjahre prägen.

In Deutschland wurden diese Publikationen indessen kaum wahrgenommen, da nur wenige davon übersetzt wurden. Zudem wurde ihr Erkenntniswert (etwa vonseiten des Münchner Instituts für Zeitgeschichte) kurzerhand bestritten – ohne dass man sich mit ihrem Inhalt eingehend auseinandergesetzt hätte. Auch nachdem hierzulande in den achtziger und neunziger Jahren einige Dutzend Berichte von Überlebenden publiziert worden waren, vergingen noch Jahre, ehe Frank Beer sich mit Erfolg dafür einsetzen konnte, einige der heute unschätzbaren frühen jiddischen und polnischen Publikationen über den nationalsozialistischen Judenmord in deutscher Sprache bekannt zu machen.

Wolfgang Benz führt in „Die Zentrale Jüdische Historische Kommission in Polen und ihr literarisches Erbe“ in die hier vorgelegte Auswahl von 12 Texten ein und stellt sie – und ihre Verfasser – einzeln kurz vor. Es folgt die Darstellung von Filip Friedman über den Mord an den Juden Lembergs, Maksymilian Borwiczs Abhandlung über die Erfahrungen von Lemberger jüdischen Häftlingen mit Mordlust und Sadismus ihrer nationalsozialistischen Bewacher und Peiniger, der Abriss von Szymon Datner über die Zerstörung des Judengettos von Białystok und der von Mendel Balberyszski über die „Liquidierung“ der Gettos in Wilna sowie Róża Baumingers Bericht aus dem Zwangsarbeitslager in Skarżysko-Kamienna, das für die deutsche Rüstung produzierte. Den umfangreichsten Beitrag stellt die erste Schilderung des Aufstands im Warschauer Getto von Józef Kermisz dar. Danach beschreibt Gerszon Taffet die Auslöschung der „rot­ruthe­nischen“ (ostgalizischen) jüdischen Gemeinde in Żółkiew, wo von 5000 Personen nur 70 mit dem Leben davonkamen. Mit seinem Beitrag sollte „ein Mahnmal“ entstehen, für das dem Verfasser allerdings keine Dokumente zur Verfügung standen, so dass er sich auf „Erinnerungen und Aussagen“ der wenigen Überlebenden stützen musste. Nach Taffets Wunsch ist „die in dieser Schrift verewigte Geschichte des Martyriums und der Vernichtung der Juden von Żółkiew ein Grabstein auf ihrem unbekannten Grab“ (S. 314–315). Der Fischhändler Ber Ryczywół berichtet sodann über sein Überleben, das ihm nur gelang, weil er jahrelang ständig auf Wanderschaft war; ein Jude aus Klimontów, Lejb Zylberberg, steuert weitere Erinnerungen bei. Die übrigen Texte handeln von den Geschehnissen in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibór: Rachel Auerbach bringt hier ihre Erfahrungen als Mitarbeiterin des Warschauer jüdischen Untergrundarchivs ein; diesem entstammt auch der umfassende Zeugenbericht von Abraham Krzepicki, dessen Erlebnisse in Treblinka dokumentiert wurden, ehe er im Frühjahr 1943 beim Warschauer Getto-Aufstand umkam. Der Jugendliche Berek Frei­berg/Fraj­berg legt Zeugnis ab über seinen Aufenthalt im nationalsozialistischen Tötungszentrum Sobibór bei Lublin.

Die von der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission zusammengetragenen Zeugnisse wurden teils aus der polnischen oder jiddischen Originalsprache, teils aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt und in Fußnoten zurückhaltend kommentiert. Beer und den übrigen Herausgebern ist dafür zu danken, dass sie nun zumindest einen Teil der frühen in Polen erschienenen Zeugnisse der deutschen und internationalen Forschung (noch einmal) zur Verfügung gestellt haben. Nicht zuletzt wird hiermit auch endlich das Werk der Menschen gewürdigt, die unter Gefahren und Strapazen Zeugnis über grauenhafte Erfahrungen ablegten, und zugleich der Einsatz jener, die sich gleich nach dem überstandenen Krieg dazu verpflichtet fühlten, gesichertes Wissen zu verbreiten über Details eines Verbrechens an der Menschheit, das seinerzeit jede Vorstellungskraft bei weitem übertraf. Die politisch schwierigen Bedingungen ihrer Arbeit unter der sich etablierenden kommunistischen Herrschaft in Polen bleiben allerdings ausgeblendet (dazu neuerdings: Laura Jockusch: Collect and Record! Jewish Holocaust Documentation in Early Postwar Europe. Oxford 2012, S. 84–120).

Viele der in den Jüdischen Historischen Kommissionen tätigen Wissensvermittler kehrten Polen bekanntlich alsbald den Rücken, um in Israel, den USA oder Westeuropa ihre Mission fortzusetzen. Aber auch dort wurde ihre Leistung wenig gewürdigt. Wie zu erfahren ist, beinhaltet das Archiv des Jüdischen Historischen Instituts bis heute die Manuskripte von neun Publikationen, die seinerzeit nicht mehr in Druck gingen (S. 26). Wünschenswert wäre es, wenn auch diese Erinnerungen und Studien alsbald veröffentlicht würden – und nicht allein in deutscher Sprache.

Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn

Zitierweise: Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn über: Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944–1947. Berichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission. Hrsg. von Frank Beer, Wolfgang Benz und Barbara Distel. Berlin: Metropol, 2014. 652 S., Abb., Ktn. ISBN: 978-3-86331-149-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Friedrich_Beer_Nach_dem_Untergang.html (Datum des Seitenbesuchs)

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