Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 3, S. 515-516

Verfasst von: Klaus-Peter Friedrich

 

Maximilian Becker: Mitstreiter im Volkstumskampf. Deutsche Justiz in den eingegliederten Ostgebieten 19391945. Berlin: de Gruyter, 2014. VII, 352 S., 4 Abb., 4 Ktn.. = Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 101. ISBN: 978-3-486-77837-3.

Maximilian Becker legt mit der überarbeiteten Fassung seiner Münchner Dissertation erstmals eine eingehende Untersuchung zur Tätigkeit nationalsozialistischer Juristen in den annektierten westpolnischen Gebieten vor. In diesem breiten Gebietsstreifen im Osten des Großdeutschen Reichs sollten von 1939 an mit Hochdruck das gesellschaftliche Leben in allen seinen Erscheinungsformen im Sinne des deutschen Rassismus umgeformt – „eingedeutscht“ – werden. Der Verfasser schildert ausführlich die Komplizenschaft der Justizjuristen in einem Prozess, der mit der Entrechtung, Vertreibung und Ermordung ungezählter einheimischer Polen und Juden einherging. Die Justiz in den vereinnahmten Gebieten zeichnete sich – wie Becker zeigen kann – durch eine extreme Radikalität aus, die stets gegen die nichtdeutsche Bevölkerung gerichtet war.

Diese Studie beruht auf breiter Quellenbasis, bezieht auch die örtlichen Amtsgerichtsakten (S. 117) und die nur umständlich zugänglichen Unterlagen im Warschauer Institut für das Nationale Gedenken (IPN) mit ein. Ferner wurde die auf Polnisch vorliegende Forschungsliteratur über das betreffende Territorium umfassend herangezogen. Erinnerungen Beteiligter und andere Selbstzeugnisse liegen dagegen offenbar kaum vor.

Die gleichermaßen der Geschichts- wie der Rechtswissenschaft verpflichtete Darstellung folgt einer klaren Gliederung. Dabei gelingt es dem Verfasser bei der Schilderung des Rechts- und Justizsystems im eroberten Raum trotz einer komplexen Materie gut lesbar und verständlich zu bleiben.

Der den Forderungen des Volkstumskampfs verpflichtete Eifer der hier eingesetzten Juristen übertraf alles, was in den von Deutschland besetzten Gebieten in West- und Südeuropa üblich war. Wurden Juden im Deutschen Reich seit 1938/39 – infolge antisemtischer Gesetzgebung – selbst im Zivilprozess zusehends benachteiligt, so ging die Diskriminierung in den Ostgebieten „nicht vom Gesetzgeber, sondern von den Gerichten aus“ (S. 118). „De facto“, schreibt Becker, „stellte das deutsche bürgerliche Recht in den eingegliederten Ostgebieten ein reines Privilegienrecht für Deutsche dar“ (S. 138). So geht es auch und vor allem darum, Formen der justiziellen Ungleichbehandlung nachzuzeichnen. Die Handhabung des Zivilrechts ließ die polnische Partei chancenlos, Vormundschaftsgerichte wirkten beim Raub von Kindern, die für „eindeutschungsfähig“ gehalten wurden, aus ihren polnischen Familien mit, eine große Zahl gemischter polnisch-deutscher Ehen wurde unter dem Druck der Verhältnisse geschieden und aufgehoben. Unterdessen assistierten Grundbuchämter der Haupttreuhandstelle Ost bei der Umgestaltung der Besitzverhältnisse, indem sie das beschlagnahmte, vormals polnische und jüdische Eigentum an die neuen (volks)deutschen Nutznießer übertrugen. Die Handhabung des Strafrechts stand dem nicht nach: Deutsche Richter verhängten gegen Polen und Juden drakonische Strafen, sodass bei rund zehn Millionen Einwohnern 5000 Todesurteile gefällt und davon 4500 vollstreckt wurden. Dabei war – auch mit Zustimmung des Justizministeriums – die Zuständigkeit für die nicht-deutsche Bevölkerung ohnehin von der Justiz auf die Polizei übergegangen, und dies, obgleich kurioserweise auch „Justizbeamte“ – Übergriffen des SS- und Polizeiapparats ausgesetzt – „immer wieder zu Opfern der gegen Polen und Juden gerichteten Gewalt“ wurden (S. 101) und die Beziehungen folglich belastet waren.

Das vergleichsweise junge Personal der Annexionsjustiz war – den Mitgliedschaften in NSDAP und SA zufolge – in ganz besonderem Maß nazifiziert, im Vergleich mit Landesteilen im Westen des Reichs aber eher weniger qualifiziert (S. 75 f., 84 f., 87). Das reibungslose Funktionieren der 1162 in den eingegliederten Ostgebieten eingesetzten Richter und Staatsanwälte (S. 71) im Rahmen der ideologischen Vorgaben durfte somit vorausgesetzt werden. Hat die Beteiligung an dem systematischen Unrecht ihnen geschadet? Zwei von fünf durften ihre Karriere in der Justiz der Bonner Republik fortsetzen; zwar war ein Fünftel von strafrechtlichen Ermittlungen betroffen, doch zur Verurteilung kam es in keinem Fall, auch nicht bei den ehemaligen Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälten.

Becker ist es gelungen, die Rechts- und Justizgeschichte stärker in die allgemeine Besatzungsgeschichte der Region einzubinden (siehe dazu auch seinen Aufsatz: Justiz und Propaganda. „Polengreuel“-Prozesse in den eingegliederten Ostgebieten in Presse und Publizistik 19391945, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 64 [2015], S. 139). Es ist ohne Zweifel auch weiterhin notwendig und angebracht, die Öffentlichkeit hierzulande über das Wüten der Nazis im eroberten und dann besetzten Polen aufzuklären. Umso wichtiger ist es daher, dass Becker dieses vernachlässigte Thema aufgegriffen hat – und dabei stets die Perspektive einer verflochtenen deutsch-polnisch-jüdischen Geschichte im Auge behält.

Klaus-Peter Friedrich, Marburg

Zitierweise: Klaus-Peter Friedrich über: Maximilian Becker: Mitstreiter im Volkstumskampf. Deutsche Justiz in den eingegliederten Ostgebieten 1939–1945. Berlin: de Gruyter, 2014. VII, 352 S., 4 Abb., 4 Ktn.. = Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 101. ISBN: 978-3-486-77837-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Friedrich_Becker_Mitstreiter_im_Volkstumskampf.html (Datum des Seitenbesuchs)

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