Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 3

Verfasst von: Norbert Frei

 

Was könnte das bedeuten: „Berlin 1938“?

Wenn ein Nichtfachmann zur Rezension in einem Fachorgan gebeten wird, muss es dafür Gründe geben. Die Herausgeber der Jahrbücher für Geschichte Osteuropas haben mich gebeten, Karl Schlögels gefeiertes und im März 2009 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnetes Opus magnum daraufhin zu lesen, „ob ein Buch ‚Berlin 1938‘ vorstellbar und was für ein Gewinn für die NS-Forschung davon zu erwarten wäre“. Und noch ein wenig konkreter lautete die Bitte, ich möge Ausschau halten nach „Gemeinsamkeiten und Unterschieden“ und Auskunft darüber geben, „ob sich von Karl Schlögel in seinem Buch für Moskau im Jahr 1937 beschriebene Entwicklungen und Phänomene auch im nationalsozialistischen Deutschland in den späten dreißiger Jahren beobachten lassen“.

Das ist eine Aufgabe, die, wollte man sie wirklich schultern, den Rahmen einer Rezension weit hinter sich ließe. Schon deshalb kann der Anspruch nur sehr viel bescheidener und kursorischer sein: Anstelle einer weiteren nichtfachmännischen Rezension eines Buches, dem in der Erstrezeption schon vielfach von Nichtfachleuten gehuldigt wurde, habe ich „Terror und Traum“ auf sein Anregungspotential hinsichtlich dessen gelesen, was die Historiographie zum Nationalsozialismus nach verbreiteter Auffassung bisher nicht geleistet hat. Wie verbreitet diese Auffassung ist, zeigt nicht zuletzt die Anfrage der Herausgeber dieses Journals.

Nun ist es zweifellos richtig, dass die ‚große Erzählung‘ über den Nationalsozialismus auf sich warten lässt. Das gilt ungeachtet der inzwischen in beachtlicher Zahl vorliegenden, in jüngerer Zeit auch stärker deskriptiv gehaltenen Gesamtdarstellungen – so zuletzt vor allem Richard Evans’ dreibändige, freilich schon in der frühen Weimarer Republik einsetzende Geschichte des „Dritten Reiches“; Walter Kempowskis monumentale Quellenmontage für die Kriegsjahre („Das Echolot“) markiert diese historiographische Lücke vielleicht am deutlichsten. Aber auch wenn einmal dahin­gestellt bleiben mag, ob die Gründe dafür mehr in der politisch-edukatorischen Genese der NS-Forschung oder im Gegenstand selbst zu suchen sind, ist doch zu fragen, ob sich Schlögels Methode einer (cum grano salis) auf ein Jahr und einen Ort bezogenen histoire totale für den deutschen Fall wirklich empfiehlt. Dass ein „Berlin 1938“ prinzipiell denkbar wäre, ist auf den ersten Blick evident; weniger klar hingegen erscheinen mir die Vorzüge eines solchen historiographischen Vorgehens. Und um es gleich zu sagen: Die Lektüre von „Terror und Traum“ lässt mich diesbezüglich eher skeptisch zurück.

Die gänzlich ungehemmte Zerstörung der alten Ordnungen und Traditionen, die radikale Auflösung überkommener sozialer Schichtungen und Lagen, die offenbar ungeheure Faszinationskraft des Neuen, die Orientierungslosigkeit in den Träumen des Kommunismus, die Angst vor dem allgegenwärtigen und unbegreiflichen Terror, kurz: jene so eindrucksvoll geschilderte Gegenwartsmixtur des Stalinismus, die laut Schlögel ein omnipräsentes Gefühl des totalen Ausgeliefertseins evozierte – all dies hat in der erfahrbaren Realität des nationalsozialistischen Deutschland vor dem Krieg keine auch nur annähernde Entsprechung. Das gilt für die übergroße Mehrheit der Deutschen, die sich in den später so erinnerten „guten Jahren“ als wertgeschätzte Mitglieder der „Volksgemeinschaft“ fühlen durften, und das gilt, wenngleich mit großen Einschränkungen, zum Teil sogar noch für jene, die das Regime längst als „Gemeinschaftsfremde“ stigmatisiert und ausgegrenzt hatte: Der Terror und die Morde der Novemberpogrome 1938 hatten die Vertreibung der Juden aus Deutschland zum Ziel und mündeten – zunächst – in ihrer gesteigerten bürokratischen Entrechtung; die rassenhygienische Propaganda richtete sich gegen die vergleichsweise begrenzte Gruppe der „Minderwertigen“ und „Asozialen“ und unterstrich damit das Sozialprestige der „erbgesunden Vollfamilie“, der „deutschen Frau“, der „Arbeiter der Stirn“ und der „Arbeiter der Faust“. Die Aufrüstung ging zu Lasten des privaten Konsums, aber das Regime war sich jederzeit bewusst, dass die Hitler-Begeisterung der Deutschen nicht zuletzt in der Aussicht auf materielles Vorankommen gründete. Die Geheimpolizei war zweifellos auch im „Dritten Reich“ gefürchtet, aber dass der gemeine „Volksgenosse“ stets mit nächtlicher Abholung rechnete, gehört ins Reich der Nachkriegslegenden, die seinen einstigen Enthusiasmus ebenso vergessen machen sollten wie die massenhaft belegte Kooperations-, sprich: Denunziationsbereitschaft.

Dann, um von den – dem Grunde nach doch gänzlich unvergleichlichen – Verheißungen der Menschheitsbeglücker gar nicht erst zu reden, die Frage nach der indoktrinatorischen Kraft der rivalisierenden Ideologien: Gewiss wird man auch für das NS-Regime die politischen und ‚ethischen‘ Erziehungserfolge (im Sinne einer neuen, nationalsozialistischen Moral) bei denen nicht unterschätzen dürfen, die in den Dreißigern im dafür empfänglichen Kindheits- und Jugendalter waren. Aber doch schon bei denen, die 1933 junge Erwachsene waren, ließen sich die Prägungen und Standards der bürgerlichen Zivilisation nicht binnen weniger Jahre vergessen machen oder gar auslöschen, auch wenn das angesichts der dann im Krieg von „ganz gewöhnlichen Deutschen“ begangenen Massenverbrechen so scheinen mochte. In diesem Sinne war Zeit ein entscheidender Faktor: Die Nationalsozialisten hatten davon einfach nicht genug, um die Gesellschaft in einen Zustand zu versetzen, der dem vergleichbar wäre, den Schlögel für die Sowjetunion genauer: für ihr Zentrum in den späten dreißiger Jahren beschreibt.

Überall dort schließlich, wo uns Schlögel die gewaltigen, stets auf die Zukunft gerichteten „Projekte“ des Stalinismus vor Augen führt – in einer vor der Kühnheit der Pläne bisweilen immer noch erschaudernden, fast ambivalent erscheinenden Sachbezogenheit – wird deutlich, was sich der Historiker des Nationalsozialismus nicht würde leisten wollen: im Kontext dieser oft atemverschlagenden Schilderungen das begeisterte Engagement der Funktionseliten im Namen einer Ideologie, sprich: ihre Tatbereitschaft, gänzlich unhinterfragt zu lassen. So konzentriert auf das „Genie“ des Architekten und auf den puren Plan, wie Schlögel sich zum Beispiel der Geschichte des Palasts der Sowjets annimmt, dessen Errichtung nur aufgrund des deutschen Überfalls scheiterte und dessen bunte Skizze nicht zufällig den Buchumschlag schmückt, würde man über Albert Speers Germania-Planungen nicht schreiben können, ohne sich dem – berechtigten – Vorwurf der Verharmlosung auszusetzen. Die Bedingungen, unter denen die „werktätigen Massen“ den Umbau Moskaus voranzutreiben hatten, spielen bei Schlögel kaum eine Rolle; wer wollte demgegenüber im Falle von Berlin das Gezerre um die Zwangsarbeiter und um die Freimachung der „Judenwohnungen“ unberücksichtigt lassen? Oder den Einsatz von Konzentrationslagerhäftlingen in den Steinbrüchen der SS, die mit Speers Baumaßnahmen einhergingen?

Wohin ein Werk uns führen würde, das im Sinne von Schlögels „Moskau 1937“ versuchte, „Berlin 1938“ in einer histoire totale in den Blick zu nehmen, dessen bin ich mir nicht sicher. Könnte es unser Verstehen der letztlich kurzen Zeitspanne vor dem Krieg und vor dem Holocaust befördern? Würde es uns die Erfahrungsgeschichte der von ihrem „Führer“ begeisterten Deutschen im Advent ihrer politischen, militärischen und vor allem moralischen Totalkatastrophe näher bringen? Oder würde es am Ende eher die Maßstäbe verzerren, den Blick auf das Wesentliche verstellen und die historische Urteilskraft trüben – so wie seinerzeit das Gedankenspiel von Joachim Fest: „Wenn Hitler Ende 1938 einem Attentat zum Opfer gefallen wäre, würden nur wenige zögern, ihn einen der größten Staatsmänner der Deutschen, vielleicht den Vollender ihrer Geschichte, zu nennen.“ (Vgl. Joachim C. Fest: Hitler. Eine Biographie. Frankfurt am Main usw. 1973, S. 25; dagegen mit guten Argumenten: Sebastian Haffner: Anmerkungen zu Hitler. München 1978, S. 54–58.)

In den Dimensionen des Terrors war „Berlin 1938“ noch nicht dort, wo „Moskau 1937“ war, und in den Dimensionen des Traums rivalisierte das Zentrum des Sowjetreichs, wie Schlögels Kaleidoskop an vielen Stellen deutlich macht, ohnehin viel eher mit New York: der Kapitale des Kapitalismus im Zeichen des New Deal.

Norbert Frei, Jena

Zitierweise: Norbert Frei über: Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau 1937. München: Hanser, 2008. 812 S., Abb. ISBN: 978-3-446-23081-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Frei_MR_Schloegel_Terror_und_Traum.html (Datum des Seitenbesuchs)

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