Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 464-466

Verfasst von: Susanne Frank

 

Eva-Maria Stolberg: Sibirien – Russlands „Wilder Osten“. Mythos und soziale Realität im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart: Steiner, 2009. 392 S. = Beiträge zur europäischen Überseegeschichte, 95. ISBN: 978-3-515-09248-7.

Das Buch von Eva-Maria Stolberg ist die vierte geschichtswissenschaftliche Monographie zu Sibirien, die innerhalb von wenigen Jahren in Deutschland erschienen ist. Während Claudia Weiss den Blick auf das Wirken der Kaiserlich-Russischen Geographischen Gesellschaft im zarischen Sibirien richtete (2007) und Dittmar Dahlmann mit seiner umfangreichen, informativen und zugleich sehr lesbaren Überblicksdarstellung (2009) den missglückten gleichartigen Versuch von Sabine Gladkov (2007) wettgemacht hat, widmet Sabine Stolberg sich der von ungeheuren Migrationsbewegungen geprägten historischen Phase der Industrialisierung und Modernisierung Sibiriens vom Bau der Transsibirischen Eisenbahn bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Dabei versteht sie Sibirien als eine typische Binnenkolonie, die sich als frontier, als Expansionsgrenze, beschreiben und mit entsprechenden anderen Binnenkolonien vergleichen lässt. Bereits der Titel „Russlands ‚Wilder Osten“ weist auf die ins Auge gefasste Parallele, den „Wilden Westen“ der USA, hin. Stolbergs Studie will sich einschreiben in die aktuelle Forschungsrichtung der „frontier and borderland studies“.

Nachdem sie eingangs die durch die jahrhundertelange Verbannungspraxis bedingte symbolische Ambivalenz Sibiriens zwischen „Stigma und Laboratorium der Moderne“ reflektiert hat, die die Symbolik Sibiriens deutlich von der des amerikanischen Westens unterscheidet, wendet sie sich im Folgenden mehr den Parallelen zu. Wobei – das muss deutlich gesagt werden – dies ein Buch über Sibirien bleibt, die Vergleiche mit Amerika oder mit Kanada, das, wenn es passt, auch in die Überlegungen miteinbezogen wird, zumeist eher knapp bleiben und refrainartig auf lange, Sibirien gewidmete Passagen folgen. Aufschlussreich sind diese Vergleiche allemal, und sie halten die zentralen Abschnitte argumentativ zusammen: Über den Bau der transsibirischen Eisenbahn; über die Dynamik, die Spezifik und die Motivationen der Migrationsströme von Siedlern bzw. Kolonisten seit dem späten 19. Jh.; über die demographischen und die biographischen Besonderheiten der Kolonisierung (Frauenmangel; Kolonistengesellschaft als ‚melting pot‘, biographisches Muster „vom Tellerwäscher zum Millionär“); über die Herausbildung städtischer Ballungsräume und die Beziehung zwischen Stadt und Land in den neuen Siedlungsgebieten; über die Jagd nach Bodenschätzen (Goldrausch hier wie dort); über staatlich gelenkte Zivilisierungs- und Assimilierungsbestrebungen gegenüber der indigenen Bevölkerung; über den Aufschwung der Agrarwirtschaft durch eine Kooperativenbewegung; über die zunehmend kollektivistische Organisation der Landwirtschaft; und schließlich über den vor und während des Zweiten Weltkriegs militärisch-industriellen Aufschwung der beiden Peripherien, deren wirtschaftliche Relevanz und Potentiale gerade jetzt entdeckt wurden, und über die Massenzuwanderung in diese an chronischem Arbeitskräftemangel leidenden Gegenden, die  diesen Aufschwung hier wie dort begünstigten. Vergleiche werden auch auf der Ebene der Mytheme gezogen, die jeweils einen nationalen Mythos mitkonstituieren: Ein einleitendes Kapitel ist der Frage nach der Herausbildung eines sibirischen frontier-Mythos gewidmet, der mit dem von Frederick Jackson Turner ausformulierten amerikanischen vergleichbar wäre, und es findet Parallelen. Das Bild des Kosaken wird in vieler Hinsicht als dem des Cowboy vergleichbar dargestellt. Stolberg weist darauf hin, dass Sibirien, das im Stalinismus als Region der Superlative, als Ort der Überbietung im zivilisationsgeschichtlichen Wettkampf der Nationen symbolisch modelliert wurde, auch in dieser Hinsicht dem amerikanischen Westen ähnle. Sibirische und amerikanische industrielle Megaprojekte und Metropolen wie Novosibirsk und Chicago müssen zusammengesehen werden.

Alle diese Vergleiche entreißen Sibirien endgültig einer – nicht zuletzt auch im populären Bewusstsein verankerten – deutschen Forschungstradition, die Sibirien als große welthistorische Ausnahme betrachtet, und stellt es in einen globalhistorisch vergleichenden Kontext. Nur an einem Punkt beharrt Stolberg auf der Unvergleichbarkeit zwischen Sibirien auf der einen Seite und den USA, Kanada und sogar der alten Strafkolonie Australien auf der anderen: das sowjetische Lagersystem des GULAG könne und soll nicht verglichen werden.

Auch ein zweiter Aspekt trägt dazu bei, dass diese Studie gegenüber der früheren Sibirienforschung neue wichtige Perspektiven eröffnet. Stolberg sieht Sibirien nicht nur von Westen her – als peripheren Raum europäischer kolonialer Expansion –, sondern auch von Osten her, als Interessen-, Migrations- und Einflussraum der ostasiatischen Mächte Japan und China. Damit berücksichtigt sie ein – in anderen Untersuchungen schon aufgrund sprachlicher Inkompetenz – vernachlässigtes Forschungsfeld und verleiht den historischen Prozessen der Erschließung und Aneignung Sibiriens die globalgeschichtliche Bedeutung, die sie haben. Wichtiges erfährt man hier über die ostasiatische Migration nach Sibirien, über die Entwicklung des Handels mit China und Japan, über die durch (chinesische) Verbannung, Opiumanbau und Landstreichertum der Chunchuzen geprägte Grenzzone zu China, über die politischen und militärischen Spannungen zwischen Russland und Japan vor und nach der Oktoberrevolution und über die von den Historikern vernachlässigte zweite sowjetische Front gegen Japan im Zweiten Weltkrieg, aber auch über die durch die Kulturkontakte im Fernen Osten wesentlich mitbedingte Geschichte der wissenschaftlichen Orientalistik in Russland. Ein spezieller Abschnitt ist der russischen Kolonie-Enklave in China, der Frontier-Stadt Charbin gewidmet, die ihre Existenz dem Bau der Ostchinesischen Eisenbahn verdankte.

Stolberg weist auch darauf hin, wie mithilfe von ethnographischen oder rassentheoretischen Hypothesen nicht nur Herrschaftsansprüche legitimiert oder kritisiert wurden – im russischen Fall je nachdem, ob die Studien aus einer regimekonformen oder regimekritischen Perspektive geschrieben waren –, sondern auch territoriale Ansprüche erhoben wurden, so im Fall des japanischen Ethnographen, der eine Verwandtschaft zwischen Burjaten und Japanern postulierte und damit die Ansprüche Japans unterstützen wollte (S. 322).

So wird deutlich, dass Stolbergs Studie eine wegweisende neue Perspektive in die aktuelle Sibirienforschung bringt. Dennoch sind zwei kleine Kritikpunkte anzumerken:

1. Gewisse Schwächen zeigt die Arbeit im Bereich der Methodologie. Der Text verliert manchmal seinen Fokus und mäandert zwischen Strukturanalyse, positivistischer Faktenorientierung und mentalitätsgeschichtlicher Perspektive – letzteres will die Studie sein – hin und her. Der „frontier“-Begriff könnte sowohl strukturanalytisch als auch konzeptgeschichtlich besser expliziert und angewandt sein. Selbiges trifft generell für den Umgang mit symbolischen Konstrukten und literarischen Texten zu, wo die referierte symbolische Zuschreibung öfter in die Rede von einer anscheinend unverhandelbaren Realität kippt (z.B. im Kapitel über die „Kosaken“). Sicherlich, die Erweiterung der geschichtswissenschaftlichen Perspektive auf den Bereich des kulturellen Symbolhaushalts als politisch und sozial relevanter Interventionszone ist sehr begrüßenswert, wirklich gewinnbringend ist sie nur bei konsequenter Anwendung eines differenzierten Instrumentariums.

2. Ein rein formaler, aber die Lektüre immer wieder irritierender Makel des Buches ist seine schlechte Lektoriertheit: Grammatikalisch und stilistisch unsaubere Formulierungen treten ziemlich gehäuft auf und können manchmal zu Missverständnissen führen. Die Literaturhinweise in Fußnoten und Bibliographie weisen viele Diskrepanzen auf, die Bibliographie viele bedauerliche Lücken aus der Forschung der letzten Jahre, das Register ist recht dürftig usw. Da hätte man mit einem bisschen mehr Sorgfalt wesentlich mehr Lesefreude erreichen können.

Susanne Frank, Berlin

Zitierweise: Susanne Frank über: Eva-Maria Stolberg: Sibirien – Russlands „Wilder Osten“. Mythos und soziale Realität im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart: Franz Steiner, 2009. = Beiträge zur europäischen Überseegeschichte, 95. ISBN: 978-3-515-09248-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Frank_Stolberg_Sibirien.html (Datum des Seitenbesuchs)

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