Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 4, S.  611–612

Ingrid Merchiers Cultural Nationalism in the South Slav Habsburg Lands in the Early Nineteenth Century. The scholarly network of Jernej Kopitar (1780–1844). Verlag Otto Sagner München 2007. IX, 378 S. = Slavistische Beiträge, 455. ISBN: 978-3-87690-985-1.

Bei manchen Büchern fällt es zunächst schwer zu erfassen, was ihr eigentliches Verdienst ist. So ist es auch im Fall der Dissertation der belgischen Slavistin Ingrid Merchiers über den Wiener Hofzensor Bartholomäus (Jernej) Kopitar aus Krain/Kranjska, der als Wegbereiter der slavischen Philologie, Mitbegründer der südslavischen Romantik und Vorläufer bzw. Pionier des Austroslavismus gilt. Weil Kopitar zwar ein slovenisches Identitätsprojekt, jedoch innerhalb der Habsburger Monarchie und unter dem Schirm einer südslavischen ‚Metaidentität‘, verfolgte, wur­de ihm paradoxerweise in der Geschichte der slovenischen Nationalbewegung und Kultur nicht immer so viel Aufmerksamkeit zuteil wie – wegen seiner Rolle als Mentor von Vuk Karadžić – in der serbischen.

Genau hier setzt die Autorin an. Sie hat sich vorgenommen, Kopitars Rolle als Pionier und nicht nur als vormärzlicher Vorläufer des Austroslavismus nachzuweisen und zu zeigen, dass seine Bedeutung für die slovenische nationale Wiedergeburt größer war als gemeinhin angenommen. Im Resümee des Buches postuliert sie in Auseinandersetzung mit Miroslav Hrochs Phaseneinteilung der Nationalbewegungen der Region (1995) eine separate und ausgeprägtere „Phase A“ des slovenischen Nationalismus als im Schema des kanonischen Nationalismusforschers vorgesehen. Die sehr wichtigen und weit­reichenden Forschungsziele, die auch die Be­schreibung der Funktion von Kopitars Netzwerk und seines Anteils an der Entstehung einer slovenischen Öffentlichkeit (im Sinne Habermas’) sowie des Kulturnationalismus in diesen Kreisen umfassen, erreicht die Verfasserin mit ihrer Analyse im Hauptteil des Bandes nicht in jenem Maße, wie es der Titel des Buches erwarten ließe. Die Autorin nennt den Grund dafür selbst, nämlich dass sie vornehmlich mit Sekundärliteratur gearbeitet hat (S. 8). So kommt sie nur punktuell zu neuen Antworten.

Die vorgelegte Analyse setzt eher auf eine konventionelle Geistesgeschichte als auf die methodische und analytische Umsetzung der selbst gestellten Fragen nach Netzwerk, Öffentlichkeit und Kulturnationalismus. Die Kritik der Autorin an der „akulturellen“ Herangehensweise der gängigen Nationalismusforschung ist berechtigt, doch zögert auch sie, sich auf „concretely cultural terms“ einzulassen (S. 11). So hätte sich in Kapitel 4 die Gelegenheit geboten, dem Begriff „cultural nationalism“ Leben einzuhauchen, etwa durch eine Diskursanalyse der kulturalistischen Identitätskonstruktion von Kopitars Austroslavismus, in dessen Interesse er eine Herkunft der Slaven just aus der geographischen Mitte der Habsburger Monarchie annahm („pannonische Theorie“; S. 152). Wäre es nicht denkbar, der kanonischen Nationalismusforschung, die stark von marxistisch beeinflussten Strömungen der sechziger Jahre geprägt ist, jene postmarxistischen Methoden der „cultural studies“, die speziell für solche Zwecke entwickelt wurden, oder eine andere kulturwissenschaftliche Herangehensweise entgegenzusetzen?

So liegt denn das große Verdienst des vorliegenden Bandes, wie die Autorin selbst andeutet (S. 8), vielmehr darin, die umfangreiche und verstreute Literatur in vielen Sprachen erstmals umfassend einem breiten akademischen Publikum auf Englisch vorgelegt zu haben. Leider verfügt das Buch über kein Register, was bei der Fülle der beschriebenen Personen und Beziehungen einen Wermutstropfen darstellt.

Ingrid Merchiers rekapituliert Kopitars Biographie in gebührender Kürze. Dabei geht sie besonders auf die Entwicklung seiner Ideologie und den Prozess seiner Integration in die akademischen Institutionen ein und stellt dar, wie er sich einen Kreis an Korrespondenten, seine „slavischen Fliegen“ im Netz der Beziehungen, wie er es formulierte (S. 140), aufbaute. Das erste Hauptkapitel ist der Bedeutung Kopitars für den frühen slovenischen Nationalismus gewidmet. Es befasst sich insbesondere mit seiner Rolle im slovenischen „Abc-Krieg“, bei der Etablierung der Slavistik in Österreich und mit seiner publizistischen und sammlerischen Tätigkeit. Kopitars Austroslavismus wird im zentralen Kapitel 4 im Detail behandelt, vor allem anhand seiner „pannonischen Theorie“. Weitere wichtige Punkte sind die Sammel- und Publikationstätigkeit Kopitars, sein institutionelles Engagement und seine Reisen. In den nächsten zwei Kapiteln exemplifiziert die Autorin die zuvor gemachten Erkenntnisse anhand der Beziehungen zwischen Kopitar und Vuk Karadžić sowie Franz Miklosich. In dem Kapitel über die verästelten Beziehungen des slovenischen Philologen zwischen Aufklärung und Romantik zu dem serbischen Reformer zeigt die Autorin in eigenen Unterkapiteln Vuk Karadžićs Lebensweg und -werk und beleuchtet die Frage, welcher Anteil daran Kopitar zukam.

Wladimir Fischer, Wien

Zitierweise: Wladimir Fischer über: Ingrid Merchiers Cultural Nationalism in the South Slav Habsburg Lands in the Early Nineteenth Century. The scholarly network of Jernej Kopitar (1780–1844). Verlag Otto Sagner München 2007. IX. = Slavistische Beiträge, 455. ISBN: 978-3-87690-985-1, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 611–612: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Fischer_Merchiers_Cultural_Nationalism.html (Datum des Seitenbesuchs)