Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 1, S. 122-124

Verfasst von: Aleksandr Filjuškin

 

Tannenberg – Grunwald – Žalgiris 1410. Krieg und Frieden im späten Mittelalter. Hrsg. von Werner Paravicini / Rimvydas Petrauskas / Grischa Vercamer. Wiesbaden: Harrassowitz, 2012. 356 S., 2 Ktn., 1 Tab. = Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien, 26. ISBN: 978-3-447-06661-7.

In der Geschichte gibt es Ereignisse, die die Völker trennen sollen, aber sie doch vereinen. Ein solches Ereignis war die Schlacht bei Tannenberg im Jahre 1410. Man sollte meinen, dass der Krieg an sich die Konfrontation im historischen Gedächtnis verankert. Aber für Historiker ist Tannenberg die Achse für das Verständnis für viele Probleme: das historische Gedächtnis der Völker, die Wahl eines historischen Wegs, kulturelle und politische Wechselwirkung, alternative Szenarien der Entwicklung Mittel- und Osteuropas im 14. und 15. Jahrhunderten, usw. Deshalb bleibt die gedankliche Verarbeitung der Schlacht bei Tannenberg und ihres historischen Kontextes wichtig für die europäische Geschichtsschreibung.

Dies wird bestätigt durch das neue Sammelwerk, das dem 600. Jahrestag der Schlacht bei Tannenberg (1410–2010) gewidmet ist. Die Publikation basiert auf den Materialien eines internationalen Kolloquiums in Vilnius im Oktober 2010, das Historiker der Universität Vilnius, des Instituts für litauische Geschichte, des Deutschen Historischen Instituts in Warschau und der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Vilnius und dem Polnischen Institut abgehalten haben.

Das Sammelwerk beginnt mit Texten, die der Erforschung des kulturellen Gedächtnisses gewidmet sind. Ob Tannenberg heute ein „aussterbender Gedächtnisort“ sei, fragte Frithjof Benjamin Schenk im Jahr 2001. Martin Kintzinger spricht in seinem Aufsatz „Perspektivenwechsel. Internationale Beziehungen zwischen West- und Osteuropa im Spätmittelalter“ (S. 13–26) über die verschiedenen Arten von historischem Gedächtnis an Tannenberg für Deutsche, Litauer und Polen. Der Autor behandelt sowohl das „horizontal Feld“ – das historische Gedächtnis in Deutschland, Polen, Litauen, wie auch das „vertikal Feld“ – das Gedächtnis an Tannenberg in verschiedenen Epochen, im Kontext anderer Kriege und der Änderung des historischen Raums in Europa (von den Nationalstaaten der Frühen Neuzeit bis die Europäische Union). Die Herausgeber des Sammelbandes haben Autoren aus verschiedenen europäischen Ländern gewonnen; dadurch konnten auf den folgenden Seiten zwei Aspekte abgedeckt werden: der breite historische Kontext der Schlacht bei Tannenberg und deren Widerspiegelung in einer langen zeitlichen Perspektive.

Eine Gruppe von Beiträgen ist dem historischen Kontext und dem Einfluss Tannenbergs auf die Zeitgenossen gewidmet. Thomas Wünsch in „Paulus Wladimiri und die Genese des realistischen Denkens in der Lehre von den internationalen Beziehungen: Der Krieg zwischen Polen und dem Deutschen Orden als Stimulus für ein neues politiktheoretisches Paradigma“ (S. 27–42) behandelt den Einfluss Tannenbergs auf das politische Denken der Epoche. Von großem Interesse ist der Aufsatz von Stephen Rowell „The Grand Duchy of Lithuania and the Beginning of the Union with Poland: the Background of Grunwald“ (S. 43–52), der davon handelt, wie die polnisch-litauische Union im Jahre 1385 den Sieg bei Grunwald vorbereitete. Der Grundgedanke ist, dass Tannenberg auf die Stärke der Allianz zwischen Jagiełło und Vytautas einwirkte. In dieser Schlacht und im Großen Krieg sammelten sie die entscheidenden Erfahrungen für ihre weitere Zusammenarbeit und für die Vermeidung einer Spaltung der polnisch-litauischen Union.

Artūras Dubonis untersucht das Problem der Grenze zwischen Litauen und dem Orden („Das Grenzgebiet zwischen Litauen und dem Deutschen Orden: soziale, wirtschaftliche, administrative, ethnische und kulturelle Kommunikation in den Jahren 1290–1422“, S. 53–65). Doch unserer Meinung nach überschätzt er die Rolle von Ethnizität bei Weitem („Das Kriterium eines litauischen Volkes mit eigener Sprache, Traditionen und einem gemeinsamen Staat wurde für Witowt zu einer mächtigen Waffe bei Verhandlungen mit den Deutschen“, S. 64). Es ist eine große Frage, was im 14. Jahrhundert in den Augen der Deutschen und Witowts als „litauisches Volk“ verstanden wurde, aber es ist offenkundig, dass man diese Worte nicht im modernen Sinne interpretieren darf. Es geht eher um ein „politisches Volk“. Der Faktor Ethnie (Nation) ist ein Faktor der Politik der Frühen Neuzeit, aber im Mittelalter hatte der Begriff „Volk“ vor allem eine politische und eine religiöse Bedeutung.

Eine Gruppe von Aufsätzen ist den wenig untersuchten Fragen der militärischen Geschichte Tannenbergs gewidmet. Daraus sind folgende hervorzuheben: Philippe Contamine, „Die Schlacht im Abendland am Ende des Mittelalters: Vorstellung, Kampfhandlung, Bericht, Bild und Erinnerung“ (S. 70–88); Hans-Henning Kortüm, „Die Tannenbergschlacht im Kontext der spätmittelalterlichen Kriegs- bzw. Schlachtgeschichte“ (S. 89–102); Malte Prietzel, „Veränderungen in der spätmittelalterlichen Kriegführung“ (S. 103–125). Sie beschäftigen sich mit den Ansichten der Zeitgenossen und der nachfolgenden Generationen über die Theorie der Schlacht, mit der Wahrnehmung der Schlacht als Koordinatensystem, mit dem Verhältnis zwischen realen Kämpfen und stereotypen Mustern von „idealen Schlachten“, zwischen Realitäten und Erwartungen, wie eine Schlacht sein soll.

Der letztgenannte Aspekt wird am besten in dem Artikel von Hans-Henning Kortüm abgedeckt. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die symbolischen Aspekte, die die Realien der Schlacht darstellen. Zum Beispiel: „So wird die Gewalt-Rendite einer Schlacht, einer mittelalterlichen zumal, an die erfolgreichen Krieger ganz unmittelbar und sofort ausgezahlt: in Gestalt gefangen genommener Gegner, die man, abhängig vom sozialen Status, gegen Lösegeld freilassen oder als Arbeitskraft versklaven kann, sowie in Gestalt wertvoller Beute: Pferde, Waffen, Rüstungen“ (S. 92). Von besonderem Interesse ist Hans-Henning Kortüms Analyse der Symbolik der Zahlen (die Schlachtdauer in Stunden, die Anzahl der Reihen von Kriegern, die Zahl der Angriffe usw. S. 99–101).

Der Aufsatz von Sven Ekdahl, einem bekannten Erforscher der Schlacht von Tannenberg („Quellenaussagen über die Taktik in der Tannenbergschlacht“, S. 285–299), und der Beitrag von Klaus Militzer („Kommunikations- und Verständigungsprobleme vor und nach der Schlacht bei Tannenberg“, S. 301–305) sollten der militärischen Geschichte ebenfalls zugerechnet werden. Die wichtigste Schlussfolgerung, die Sven Ekdahl zieht, ist die Notwendigkeit, die Informationen aus der Quellen zu überprüfen: Er zeigt die Subjektivität aller Texte über die Schlacht bei Tannenberg. Die darin berichteten Daten über die Taktik der Kriegsparteien enthalten viele Ungenauigkeiten und Auslassungen. Der Historiker kann überzeugend zeigen, dass es unmöglich ist, die Taktik auf Grund der einen oder der anderen Quelle zu analysieren. Man muss die überlieferten Informationen überprüfen (S. 299).

Zwei Artikel sind der Analyse von sozialen Prozessen im Zusammenhang mit Tannenberg gewidmet (Uwe Tresp, „Söldner aus den Ländern der Böhmischen Krone in den Kriegen zwischen dem Deutschen Orden und Polen-Litauen zu Beginn des 15. Jahrhunderts“, S. 135–158; Grischa Vercamer, „Die Freien im Deutschordensland Preußen als militärischer Rückhalt Ende des 14. – Anfang des 15. Jahrhunderts“, S. 175–190). Sie sind als besonders wertvoll einzuschätzen, weil sie neue Quellen (einschließlich der fiskalischen) verwenden und analysieren.

Sowohl die militärischen als auch die sozialen Aspekte der Schlacht bei Tannenberg wurden bereits auf diese oder andere Weise im historischen Kontext untersucht. Neu in dieser Sammlung ist ein großer Block von Artikeln, der dem Problem des Friedens nach Tannenberg gewidmet ist. Daraus sind man die folgenden hervorzuheben: Klaus Neitmann, „Vom ewigen Frieden. Die Kunst des Friedensschlusses zwischen dem Deutschen Orden und Polen-Litauen 1398–1435“ (S. 201–210); Adam Szweda, „Polen und der Deutsche Orden – Botenwesen und friedliche Verhandlungen“ (S. 223–236); Rimvydas Petrauskas, „Litauen und der Deutsche Orden: vom Feind zum Verbündeten“ (S. 237–252). Die Schlussfolgerungen von Rimvydas Petrauskas scheint uns wichtig zu sein, dass trotz aller militärischen Auseinandersetzungen der Orden in vielen Aspekten ein politisches und soziales Vorbild darstellte, an dem sich die litauische politische Elite ausrichtete. Und dies wie auch die zahlreichen persönlichen Beziehungen der Aristokraten erlaubten es gerade, vom Krieg zum Frieden überzugehen (S. 250).

Das Sammelwerk zeigt, dass die Geschichte der Schlacht bei Tannenberg immer noch ein unerschöpfliches Thema für Ostmitteleuropa-Historiker ist. Es besteht kein Zweifel, dass es gefragt sein wird für das Studium der Epoche des „Großen Krieges“ zwischen dem Orden, Polen und Litauen im frühen 15. Jahrhundert.

Aleksandr Filjuškin, St. Petersburg

Zitierweise: Aleksandr Filjuškin über: Tannenberg – Grunwald – Žalgiris 1410. Krieg und Frieden im späten Mittelalter. Hrsg. von Werner Paravicini / Rimvydas Petrauskas / Grischa Vercamer. Wiesbaden: Harrassowitz, 2012. 356 S., 2 Ktn., 1 Tab. = Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien, 26. ISBN: 978-3-447-06661-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Filjuskin_Paravicini_Tannenberg_Grunwald_Zalgiris.html (Datum des Seitenbesuchs)

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