Eimermacher, Karl / Volpert, Astrid (Hrsg.), unter Mitarbeit von Gennadij Bordjugow: Tauwetter, Eiszeit und gelenkte Dialoge. Russen und Deutsche nach 1945, Wilhelm Fink Verlag München 2006. 1306 S., s/w-Abb. = West-Östliche Spiegelungen. Neue Folge, 3. ISBN: 3-7705-4088-3.

Mit diesem gut 1300 Seiten starken Buch liegt nun der dritte voluminöse Band zum Verhältnis von Russen und Deutschen im 20. Jahrhundert vor. Der erste Band behandelt den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, der zweite die Zwischenkriegszeit. Die Reihe schließt chronologisch an das von Lew Kopelew begründete Wuppertaler Projekt und die Reihe „West-Östliche Spiegelungen“ (11.–19. Jahrhundert) an. Die inhaltliche Ausrichtung hat sich jedoch inzwischen verändert. In der Neuen Folge geht es weniger um die Genese und Wirkungsmacht der (Fremd-)Bilder, die sich Russen und Deutsche im Laufe der Jahrhunderte voneinander machten, sondern sie ist breiter gefasst und thematisiert zunächst die Verarbeitung der Kriegserfahrung in den beiden deutschen Staaten und in Sowjetrussland („Umgang mit der Kriegsvergangenheit: Sowjetunion, DDR, Bundesrepublik“), dann wesentliche gesellschaftliche Entwicklungen in allen drei Staaten im Kalten Krieg sowie verschiedene Ebenen der Begegnung und Zusammenarbeit West- und Ostdeutschlands mit der Sowjetunion („Gespaltene deutsch-sowjetische Perspektiven“), schließlich persönliche und professionelle Kulturkontakte sowie den internationalen Austausch und die landesspezifische Entwicklung in den Medien Literatur, Musik, Film und Fernsehen („Felder interkultureller Orientierung“).

Damit ist die ursprüngliche Konzeption zwar nicht völlig aufgegeben, aber doch erheblich aufgeweicht worden, wenngleich sich auch in diesem Band noch eine Reihe von Beiträgen mit der klassischen Thematik der Feindbilder und Stereotypen befasst. Die beiden Herausgeber verzichten in der knappen Einleitung sogar völlig darauf, das Konstruktionsprinzip, den strukturierenden roten Faden dieses dritten Bandes vorzustellen oder sein spezifisches Anliegen zu erläutern. Herausgekommen ist dennoch ein von Umfang und Inhalt her beeindruckendes Buch mit 39 Einzelbeiträgen, die an dieser Stelle natürlich nicht alle vorgestellt und gewürdigt werden können. Im Wesentlichen behandeln sie verschiedene Facetten des Beziehungsgeflechts zwischen Russen und Deutschen nach der furchtbaren Erschütterung durch den Zweiten Weltkrieg und stammen von deutschen und russischen (fast ausschließlich Moskauer) Autoren, unter die sich als einziger Ungar der Schriftsteller György Dalos gemischt hat. Bei den übrigen Verfassern handelt es sich um Historiker, Literatur-, Film-, Kultur-, Kunst-, Informations- und Theaterwissenschaftler, Publizisten, Journalisten, Bibliothekare, Archivare und Theologen unterschiedlicher Generationen. Manche Beiträge sind in Form persönlicher Erinnerungen gehalten, andere liefern detaillierte quellengestützte fachwissenschaftliche Untersuchungen, die mit einem Umfang von mehr als 40 Seiten im Einzelfall ermüdend lang sein können. Die meisten Artikel haben jedoch normale Aufsatzlänge und befassen sich mit – wenngleich auch nicht immer ganz neuen, so doch – hoch spannenden Themen oder Einzelaspekten der Gesellschafts- und Kulturgeschichte der beiden deutschen Staaten und Russlands in den Nachkriegsjahren bzw. im Kalten Krieg. Die Ebene der sich intensivierenden politischen und ökonomischen Beziehungen bleibt weitgehend ausgespart.

Im Anschluss an die Einleitung platziert, jedoch keinem der drei Großkapitel zugeordnet, findet sich ein höchst anregender Aufsatz von Anne Hart­mann zum Thema „Zurück in die Zukunft ans Ende der Geschichte. Russische Zeit­sprünge“. Darin untersucht sie die Nachhaltigkeit russischer Heils- und Sinnstiftungskonzepte, wie sie im Sinne einer „Erlösungsreligion“ auch von den militant atheistischen Bolschewiki verkündet wurde, jetzt aber verknüpft mit der Vorstellung vom Menschen als Gott. Verlangt wurden in der Folge Glaube, Gefolgschaft und Bekenntnis: „Das Politische wurde sakralisiert, die Religion usurpiert und in ihren christlichen Gehalten profaniert“ (S. 27). Inzwischen suche das Projekt der nationalen „Wiedergeburt“ Russlands, das ja eigentlich den Weg in die Zukunft weisen sollte, sein Heil wiederum in der Vergangenheit, beschwöre die historische Mis­sion Russlands, die Besonderheiten des Russentums (russkost’), und stütze sich auf die Orthodoxie als „Zement und Schlussstein der Konstruktion einer russischen Identität“ (S. 37). Dabei werde die russische Vergangenheit jedoch lediglich verklärt, nicht kritisch aufgearbeitet: „Ein Modell für die Zukunft entsteht daraus wohl erst, wenn Rußland zu einer Verständigung über seine Vergangenheit gelangt und in eine Gegenwart findet, die die Gesellschaft pluralistisch eint“ (S. 43).

Im ersten, mit „Umgang mit der Kriegsvergangenheit: Sowjetunion, DDR, Bundesrepublik“ überschriebenen Themenschwerpunkt des Bandes geht es im ersten Abschnitt um das Thema „Migration und Wiedereingliederung“ nach Kriegsende, im Einzelnen um die Themen „Auslieferung von Kriegsverbrechern“, „Repatriierung“, „Umgang mit Kriegsgefangenen“ sowie um den „staatlichen Antisemitismus im sowjet­russischen Alltag der Nachkriegszeit“. Es folgt ein Abschnitt über politische (Stalin), pathetische (Rundfunk und Fernsehen) und ironische (Witze, Romane, Fernsehserien) Strategien zur Verarbeitung des Krieges und seiner Folgen. Dieser zweite Abschnitt konzentriert sich mit gewissem Recht ausschließlich auf die Sowjetunion, die einen unvorstellbar hohen Preis für den Sieg entrichten musste. Der dritte Abschnitt des ersten Themenschwerpunkts widmet sich dann am Beispiel ausgewählter Persönlichkeiten – vor allem von Mitgliedern der künstlerischen Intelligenz wie z. B. Ernst Helms, Johannes R. Becher oder Ilja Ehrenburg – der Vermittlungstätigkeit im deutsch-russischen Dialog. Sie nahm unter den terroristischen Bedingungen des Stalinismus in vielen Fällen einen tragischen Ausgang, sei es als persönliche Katastrophe oder zumindest spürbare Bedrohung, sei es aufgrund von Verfolgung aus politisch oder ethnisch motivierten Gründen, wie sie vor allem prominente Künstler und Angehörige nationaler Minderheiten zu erleiden hatten.

Der erste Abschnitt des zweiten Themenschwerpunkts „Gespaltene deutsch-sowjetische Perspektiven“ untersucht verschiedene Felder der gegenseitigen Beobachtung und Analyse der beiden deutschen Staaten auf der einen und Sowjetrusslands auf der anderen Seite und zwar am Beispiel der sowjetischen „Leitkultur“ in der SBZ/DDR, der SMAD-Propaganda in Ostdeutschland, der Wahrnehmung des 17. Juni 1953 durch sowjetische Aufklärungsoffiziere, des Sowjetunion-Bildes deutscher Unternehmer, die das Land besuchten, sowie schließlich des Umgangs mit dem Tod Stalins im DDR-Fernsehen in den Jahren 1953 bis 1956. Es folgt ein Abschnitt über „Gegnerschaft und Gefolgschaft im Kalten Krieg“, in dem in je zwei Beiträgen die Wissenschafts- und die Sportbeziehungen zwischen den deutschen Staaten und Sowjetrussland, dann aber auch der Umgang mit den sogenannten „Parasiten“, also „arbeitsscheuen“ Personen in der Sowjetunion und der DDR, untersucht werden. Der dritte Abschnitt steht unter der Überschrift „Utopie und Utopieverlust“ und enthält mit einer umfassenden Untersuchung von Holger Böning „Zum Bild der Sowjetunion im politischen Lied der BRD“ sowie der von der Herausgeberin Astrid Volpert sehr detailliert untersuchten, Jahrzehnte währenden Tätigkeit des Dessauer Bauhausarchitekten Philipp Tolziner in der Sowjetunion zwei Beiträge, die wirklich Neuland erschließen und bislang unbekannte oder in Vergessenheit geratene Facetten der deutsch-sowjetischen Begegnung ins Licht rücken.

Im dritten Themenschwerpunkt werden im ersten Abschnitt unter dem Stichwort „Persönliche und professionelle Kontakte“ zwei Aspekte exemplarisch untersucht, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten: Iosif Brodskijs Dialog mit der deutschen Kultur einerseits und andererseits die Erfahrungen evangelischer Russlanddeutscher in der Sowjetunion. Der zweite und letzte Abschnitt setzt sich unter der Überschrift „Kontrollierter Austausch“  vor allem mit der zum Teil subversiven Wirkung der russischen Literatur der sechziger Jahre auseinander sowie mit den Darstellungen von Deutschen und Russen in west- und ostdeutschen, vor allem aber in sowjetischen Spielfilmen zum Zweiten Weltkrieg. Den Abschluss des Bandes bildet ein Beitrag über „Die posttotalitäre russische Gesellschaft auf der Suche nach einem Ausweg aus der Identitätskrise“. Dessen Autor Alexander Bo­ros­njak untersucht die während der Perestrojka unternommenen wichtigen Initialbemühungen von Literatur, Publizistik und Geschichtswissenschaft, das totalitäre Erbe, insbesondere den Stalinismus, zu reflektieren, um sich davon zu befreien, nachdem die ersten Anläufe zur Entstalinisierung im „Tauwetter“ der fünfziger und sechziger Jahre über erste Ansätze zur Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit nicht hinausgekommen waren. Wichtige Themen in beiden Phasen waren der Krieg und der Terror der Stalinzeit bzw. das System der Zwangsarbeitslager. Doch, wie der Verfasser treffend bemerkt, kam es gegen Ende der achtziger Jahre infolge der desaströsen wirtschaftlichen Entwicklung zu einem „Knick der Perestrojka, Knick des historischen Bewusstseins“: „Der Vektor des gesellschaftlichen Bewusstseins verschob sich hin zur Sorge um das tägliche Brot. Das Ausbleiben realer Erfolge bei der Errichtung einer Zivilgesellschaft führte zur Devaluierung der demokratischen Werte und zu sozialem Pessimismus“ (S. 1250–1251). Ein optimistischer Ausblick auf die Zukunft Russlands fehlt, vielmehr schließt der Beitrag mit einer Reihe noch immer aktueller besorgter Fragen: „Wird Russland es verstehen, die notwendigen Schlüsse aus der Stalinschen Vergangenheit zu ziehen und seinen Weg zu nationaler Übereinkunft, zu einer stabilen und menschlichen Demokratie einschlagen? Wird Russland zu sich selbst finden, d.h. in Anlehnung an die Schlußsequenz aus Abuladses Film, jene Straße ausfindig machen, die zur Kirche führt?“ (S. 1264) Dass damit nicht etwa die blinde Rückkehr in den Schoß des orthodoxen Glaubens, sondern die schmerzliche Auseinandersetzung mit der Frage der Schuld jedes Einzelnen und die Bereitschaft zur Reue gemeint ist, liegt auf der Hand.

Beate Fieseler, Düsseldorf

Zitierweise: Beate Fieseler über: Eimermacher, Karl / Volpert, Astrid (Hrsg.), unter Mitarbeit von Gennadij Bordjugow: Tauwetter, Eiszeit und gelenkte Dialoge. Russen und Deutsche nach 1945, Wilhelm Fink Verlag München 2006. = West-Östliche Spiegelungen. Neue Folge, 3. ISBN: 3-7705-4088-3, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 4, S. 627-629: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Fieseler_Eimermacher_Tauwetter.html (Datum des Seitenbesuchs)