Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 156-158

Verfasst von: Björn M. Felder

 

Vasilij V. Babkov: Zarja genetiki čeloveka. Russkoe evgeničeskoe dviženie i načalo medicinskoj genetiki. Moskva: Progress-Tradicija, 2008. 799 S., Abb., Tab. ISBN: 5-89826-262-8.

Vasilij V. Babkov: The Dawn of Human Genetics. New York: Cold Spring Harbor Laborators Press, 2013. 775 S., 91 Abb. ISBN: 978-1-936113-70-5.

Russland und die Sowjetunion sind in der Historiographie der globalen Bewegung der Eugenik noch immer eine terra incognita. Über die „Erbgesundheitslehre“ in der Sowjetunion, die eng mit der Geschichte der Humangenetik verbunden ist, sind bisher wenige Arbeiten erschienen, die auch nur die wissenschaftliche Debatte, nicht aber konkrete Maßnahmen behandeln. Folgt man dem aktuellen Narrativ, so bestand die eugenische Wissenschaft in der Sowjetunion vor allem aus genetischer Forschung, die seit Mitte der 1920er Jahre zunehmend unter ideologischen Druck geriet. Praktische Maßnahmen oder staatliche gelenkte Biopolitik, sprich Menschenzüchtung, fanden nicht statt. Dies bedingt sich durch die marxistische Doktrin, die neo-lamarckistische Vorstellung von der Vererbung erworbener Eigenschaften favorisierte und die klassische, deterministische Genetik nach Mendel und Weissmann ablehnte. Dies war auch der Grund für die Verfolgung der Eugenik während der „Kulturrevolution“ und der Stalinisierung der Gesellschaft Ende der 1920er Jahre. Während eugenisch orientierte Wissenschaftler noch einige Zeit unter dem Deckmantel der „medizinischen Genetik“ arbeiten konnten, wurde mit der Absage der internationalen Konferenz zur Genetik, die für 1937 in Moskau geplant war, durch das Politbüro auch deren Schicksal besiegelt. Institute wurden aufgelöst, Wissenschaftler verhaftet und erschossen wie Solomon Levit, Leiter des Maksim-Gorkij-Instituts für medizinische Genetik in Moskau. Zudem etablierte die stalinistische Führung eine neo-lamarckistische und führungshörige Pseudo- und Gegenwissenschaft unter Trofim Lysenko, die auf dem Gebiet der Genetik die Wissenschaft bis in die 1960er Jahre beherrschen sollte. Dieses Narrativ, die Geschichte des sowjetischen „Sonderwegs“ der Eugenik, führt im Rückschluss zur weit verbreiteten Schlussfolgerung, dass es unter Stalin zwar Verfolgung und Massenmord, aber keinen biologistischen Rassismus gegeben habe. Es gibt freilich einige neuere Arbeiten, die diese Erzählung in Frage stellen. Die vorliegende Arbeit gehört nicht dazu. Man hätte sich von einem 800-Seiten Werk mehr erwarten können, doch folgt Babkov dem klassischen Narrativ. Im Grunde handelt es sich hierbei auch nicht um eine Monographie, sondern um eine Quellenedition, um ein Reprint einer Vielzahl von eugenischen Schriften aus dem Jahren 1920 bis 1979, die mit einführenden Texten von Babkov versehen sind; eine für Russland in letzter Zeit typische Publikationsform. James Schwartz hat den Band von Babkov ins Englische übersetzen lassen und ihn mit einem übersichtsartigen, kurzen Vorwort versehen. Er folgt grundsätzlich Babkovs Narrativ.

Babkov unterteilt Texte in chronologische Abschnitte und beginnt mit den Ursprüngen der Eugenik bei Charles Darwin und Francis Galton. Leider unterschlägt er in dieser Darstellung die vorrevolutionäre, eugenische Debatte in Russland, die in ihrer proto-eugenischen Form in den 1890er Jahren einsetzte. Es folgt ein Kapitel zur Russischen Eugenischen Gesellschaft in Moskau in den 1920er Jahren unter Nikolaj Kolcov und folgerichtig ein weiteres zum Büro für Eugenik unter Jurij Filipčenko in Leningrad, sowie zu deren regionalen Filialen. Nach einem beispielhaften Kapitel zu Forschungsinhalten, in diesem Falle zur Genealogie, folgt eine Darstellung der Gesellschaft für Rassenpathologie, die 1929 offensichtlich im Kontext der deutsch-sowjetischen Wissenschaftskooperation auf dem Gebiet der Rassenpathologie gegründet wurde, wobei Babkov diese höchst spannende Zusammenarbeit nicht thematisiert. Chronologisch folgen mit der Kulturevolution die ersten ideologischen Angriffe, die ein kurzes Kapitel behandelt, sowie die Flucht in die „bolschewistische Eugenik“ in Form der „medizinischen Genetik“. Weiterhin wird, wie zu erwarten war, in drei ausführlichen Kapiteln die endgültige Liquidierung der medizinischen Genetik abgehandelt: die Angriffe in den Jahren 1936 und 1937, die Arbeit des US-amerikanischen Eugenikers Henry Mullers sowie das Ende des Instituts unter Kolcov. Abgerundet wird die Sammlung mit eugenisch-genetischen Texten aus den 1970er Jahren, meist von Schülern der ersten Generation sowjetischer Eugeniker.

Bezüglich der sowjetischen Eugenik findet man in Babkovs Texten wenig grundlegend Neues. Vieles scheint überholt oder fraglich, so wird etwa die Bedeutung Mullers, der seine eugenische Utopie „Out of the Night“ an Stalin sandte, für die plötzliche Liquidierung der sowjetischen genetischen Forschung überbewertet. Interessant sind manche Details wie die Tatsache, dass die rassenbiologische Erforschung und Vermessung sowjetischer Juden durch Mitglieder der jüdischen Wohlfahrtsorganisation OZE in direkter Zusammenarbeit mit der Russischen Eugenischen Gesellschaft und dem Institut für experimentelle Biologie unter Kolcov in Moskau und dessen Kommission zur Erforschung von Juden erfolgte. Deutlich wird auch die Kontinuität eugenischer Vorstellungen in die post-stalinistische Periode und in die sowjetische Genetik, die an die Vorkriegstradition anknüpfte.

Problematisch ist die Haltung von Babkov, der die frühen Eugeniker als Väter der russischen Genetik feiert, wie schon der Titel „Morgenröte der Humangenetik“ suggeriert. Er folgt stringent einem russischem Narrativ, in dem die Eugeniker als Wissenschafts­ikonen und Verfolgte des Stalinismus erscheinen. Auch Schwartz bezieht hier keine abweichende Stellung. Babkov bezeichnet die sowjetischen Eugeniker zudem als „liberal“, stellt sie in die Nähe der westlichen „Reformeugenik“ der Nachkriegszeit und tradiert auch das Bild einer sowjetischen Eugenik ohne Rassismus – im Grunde ein Paradoxon. Unerwähnt bleiben die praktischen Kreuzungsversuche von Menschen und Primaten im Rahmen der sowjetischen Eugenik, wie sie Kiril Rossijanov dokumentiert hat. In diesem Zusammenhang auch interessant wäre die Forschung des Eugenikers und Rassenanthropologen Viktor Bunak, eines Mitarbeiters von Kolcov und später von Levit, der ‚nachwies‘, dass die russische Bevölkerung biologisch von der „nordischen“ Rasse abstammte und explizit nicht aus „Asiaten“ bestehe oder von diesen maßgeblich biologisch beeinflusst sei. Ähnliche eurozentristische und implizit rassistische und xenophobe Äußerungen finden sich auch andernorts. Man muss einfach in den Texten der sowjetischen Eugeniker nachlesen, die Babkov ausgewählt hat, und wird dort einen stärkeren Einfluss der westlichen „bürgerlich-faschistischen“ Eugenik finden als Babkov suggeriert.

Im Grunde ist die Publikationsform zu begrüßen, da Babkov dem Leser Texte zugänglich macht, die außerhalb Russlands kaum eine Bibliothek zu bieten hat. Die Arbeit von Schwartz eröffnet die Texte zudem allen Lesern ohne Sprachkenntnisse des Russischen. Gleichwohl beschränkt sich die Auswahl vor allem auf das Russkij Evgeničeskij Žurnal und wissenschaftliche Texte der führenden genetischen Institutionen. Texte in populärwissenschaftlichen Zeitschriften oder der Tagespresse, die eugenische Vorstellungen in der Sowjetbevölkerung popularisierten, was offensichtlich der Fall war, fehlen ganz. So ist der Band sinnvoll als Edition zum Nachschlagen von Quellen. Um sich eine allgemeines Bild von der sowjetischen Eugenik machen zu können, muss man aber auf die bekannte Arbeiten von Mark Adams oder Nikolaj Kremencov zurückgreifen.

Björn M. Felder, Göttingen

Zitierweise: Björn M. Felder über: Vasilij V. Babkov: Zarja genetiki čeloveka. Russkoe evgeničeskoe dviženie i načalo medicinskoj genetiki. Moskva: Progress-Tradicija, 2008. 799 S., Abb., Tab. ISBN: 5-89826-262-8; Vasilij V. Babkov: The Dawn of Human Genetics. New York: Cold Spring Harbor Laborators Press, 2013. 775 S., 91 Abb. ISBN: 978-1-936113-70-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Felder_SR_Zarja_genetiki_celoveka.html (Datum des Seitenbesuchs)

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