Michail Ryklin Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution. Über­setzt von Dirk und Elena Uffelmann. Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag Frank­furt/Main 2008. 192 S.

Als vor 25 Jahren während des sogenannten „Historikerstreits“ über die Vergleichbarkeit von nationalsozialistischen und sowjetischen Verbrechen gestritten wurde, kam es zu bizarren intellektuellen Verrenkungen: Mitunter wurden die millionenfachen Opfer sowjetischer Gewalt kleingeredet. Dies ging weit über das Anliegen hinaus, den Holocaust fest in der bundesrepublikanischen Geschichtskultur zu verankern und vor Relativierung zu schützen. Die Argumente jener Fraktion standen in der Tradition der Apologeten sowjetischer Gewalt seit den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Die bol’ševiki unter Lenin erschufen seit ihrem Putsch in Petrograd 1917 eine Gewaltherrschaft, in der jeder, der sie nicht befürwortete, ein Feind war, den es zu vernichten galt. Eliminatorische Gewalt begleitete das sowjetische Ex­periment von seiner Geburtsstunde an. Die Verbrechen an der Zivilbevölkerung im Bürgerkrieg, an den russischen Bauern durch die Requirierungstrupps, die kollektiven Verbrechen gegen ethnische Gruppen – dies alles war im übrigen Europa schon damals bekannt. Seltsamerweise fanden sich in Westeuropa Generationen von Intellektuellen, die trotzdem das sowjetische Regime verteidigten, die Gewalt als „Feindpropaganda“ abtaten oder sie als „historisch notwendig“ bezeichneten. In einer Zeit, in der das Ausmaß der sowjetischen Gewaltherrschaft immer weiter erforscht und einer breiten Bevölkerung bewusst wird, stellt sich die Frage, was diese Künstler, Schriftsteller und Intellektuellen zu ihrer apologetischen Haltung bewegt haben mag.

Michail Ryklin hat sich mit einigen bekannten Stalinisten und Sympathisanten des sowjetischen Totalitarismus wie Bertholt Brecht, George Bernhard Shaw und Walter Benjamin befasst. Dabei nutzt der Autor eine Herangehensweise, die in jüngster Zeit wieder häufiger zum Verständnis von totalitären Regimen und totalitärer Gewalt genutzt wurde: deren Interpretation als politische Religion. Diese Methode wurde bereits in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts von Soziologen und Politologen wie Raymond Aron und Eric Voegelin für die Beschreibung totalitärer Regime sowjetischer sowie rechtstotalitärer Ausrichtung entwickelt. Grundlage dafür waren die Suche nach den Ursachen und der Versuch der Beschreibung von Radikalität und Gewalt jener totalitären Regime, speziell im Hinblick auf die Mobilisierung der Menschen: das Phänomen der fanatischen Anhängerschaft und von Massenbewegungen, die die totalitäre Herrschaft begründeten bzw. ermöglichten. Auffällig waren für verschie­dene Beobachter die religiöse Struktur der Ideologien und die Entwicklung religionsartiger Kulte, die das Leben im Nationalsozialismus und Kommunismus bestimmten. Gleichzeitig wurden traditionelle Religionen und deren Kirchen verboten und verfolgt. Es entstand eine Transzendierung der diesseitigen Welt und eine Selbsttranszendierung der politischen Akteure. Gemeinsam waren beiden politischen Ideologien Heils- und Erlösungserwartungen an die jewei­ligen politischen Führer sowie ein messianisches wie eschatologisches Denken, durch das aus der politischen Ideologie eine Utopie mit erlösendem Charakter wurde. Zudem wurden das Ende der Geschichte und die Erlösung der Menschheit impliziert. Ryklin folgt dieser Denkschule. Für ihn ist die radikale, fanatische Motivation der „Gläubigen“ des Kommunismus in diesem Zusammenhang bedeutsam. In der Sowjetunion unter Lenin wurde eine manichäische Ideologie installiert, die sich selbst bzw. das „Proletariat“ transzendierte und sich zudem zur „Wissenschaft“ erklärte. Die starke Hierarchie und die zentrale Machtstellung der messianischen Figur Lenins wurde mit dessen Erlöserrolle, wie man sie sonst nur aus den Weltreligionen kannte, legitimiert. Im Leninismus gab es nur Freund und Feind, Gläubige und Ungläubige. Jene Gläubigen fanden sich freilich auch im Westen. Für sie war die Sowjetunion ihr „Mekka“, das „bolschewistische Projekt“ eine Utopie mit religiösem Kontext. Ryklin nennt das Beispiel von Frank Kafka als einem frühen Kritiker des Systems, der es bereits 1920 als säkularreligiöses Phänomen beschrieb. In der Sicht Ryklins war Kafkas „Schloss“ eine erste literarische Auseinandersetzung mit der Säkular­religiosität des Bolschewismus. Es ist erstaunlich, dass auch die „gläubigen“ Intellektuellen das säkularreligiöse Wesen des kommunis­tischen Regimes bereits damals direkt oder in­direkt reflektierten. Dies geschah in der „Rück­kehrerliteratur“ durch „Gläubige“, die nach ihren Reisen in das „kommunistische Mek­ka“ über ihre meist negativen Erfahrungen berichteten. Freilich wuchsen bei vielen jener Intellektuellen Zweifel aufgrund der gesellschaft­lichen Missstände und der extremen Gewalt, etwa der Niederschlagung des Aufstandes von Kronstadt. Die wenigsten freilich wandten sich daraufhin vom Kommunismus ab, wie dies André Gide tat. Trotz der Erfahrung von Terror – viele erlebten das Verschwinden von Freunden und Verwandten – konnten sie sich nicht von ihrem säkularreligiösen Glauben befreien. Die extreme Gewalt wurde oft damit entschuldigt, dass sich die Sowjetunion noch im Aufbau befinde und dies eben Anlaufschwierigkeiten seien. Es fanden sich auch Intellektuelle, die selbst die Schauprozesse in Moskau rechtfertigten. So behauptete Lion Feuchtwanger, bei diesen Schauprozessen würden tatsächliche Verbrecher abgeurteilt. Wie Ryklin zeigt, schrieben die Verurteilten von 1937 in Moskau die Drehbücher für ihre Aburteilung zum Teil selbst: Auch sie verließ der Glaube selbst nach Haft und Folter nicht. Den Hauptteil seines Buches widmet Ryklin den europäischen Stalinisten.

Obwohl Ryklin im Allgemeinen sehr scharf analysiert, kann man ihm vorwerfen, dass er die Methode, den Kommunismus als politische Religion zu interpretieren, nicht konsequent anwendet. Die Ideen von Marx schließt er von seiner Kritik am säkularreligiösen Denken der Kom­munisten aus. Er folgt hierin seinem Lehrer Derrida: Die „Hoffnung“, die die Marxsche Leh­re impliziere, sei durchweg positiv, die religiöse Komponente sei hier nicht zu kritisieren. Insgesamt ist Ryklins Ansatz, den Wesenskern der Denkstruktur des Stalinismus und seiner Anhänger im Westen als politische Religion zu charakterisieren, sehr überzeugend. Bei ihm kann man über das Wesen des Stalinismus mehr lernen als in so manchem umfangreichen Buch der letzten Jahre.

Björn Michael Felder, Marburg/Tübingen

Zitierweise: Björn Michael Felder über: Michail Ryklin: Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution. Übersetzt von Dirk und Elena Uffelmann. Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag Frankfurt/Main 2008. ISBN: 978-3-458-71010-3, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Felder_Ryklin_Kommunismus_als_Religion.html (Datum des Seitenbesuchs)