Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 318-320

Verfasst von: Björn M. Felder

 

Marie Mrázková: Deutsche Besatzungspolitik und litauische Gesellschaft 1941–1955. Litauische Reaktionen auf Holocaust und Mobilisierung. Praha: Matfyzpress, 2011. 114 S. = Territoria, 5. ISBN: 978-80-7378-156-9.

Litauen unter nationalsozialistischer Besatzung stand bisher nicht im Zentrum der Forschung, weder in Deutschland noch in Litauen selber; dies gilt besonders für die Reaktionen der litauischen Bevölkerung. Fallstudien zu diesem Thema verdienen daher besondere Aufmerksamkeit.

Bei Mrázkovás Arbeit handelt es sich ganz offensichtlich um eine akademische Abschlussarbeit an der Universität Prag, die allerdings schon vor geraumer Zeit eingereicht wurde. Die Autorin unterteilt ihre Arbeit in zwei Abschnitte, von denen sich der erste mit den Reaktionen der katholischen Kirche, desnationalenWiderstandes und der Kommunisten in Litauen auf die (Zwangs)Rekrutierung sowohl von Arbeitskräften aber auch von Polizei- und Militärkräften durch die nationalsozialistischen Besatzer beschäftigt. Im zweiten Kapitel widmet sie sich der Beteiligung von Litauern am Holocaust und der Haltung verschiedener sozialer Gruppen gegenüber den Juden und deren Vernichtung. Man muss vorwegnehmen, dass Mrázková allein im ersten Teil einen originären Forschungsbeitrag leistet und ausführlich litauische Quellen gesichtet hat. Der zweite Teil bietet lediglich eine Übersicht über die einschlägige Forschungsliteratur, die bis 2005 erschienen ist und nach zehn Jahren zumindest in Teilen als überholt gelten kann. Mann kann Mrázková aber zugute halten, dass sie Litauisch liest und auch Forschung aus Litauen in ihre Analyse einfließen lässt.

Zum Holocaust und zu den litauischen Reaktionen stellt sie Folgendes fest: Ähnlich wie zuletzt Dieckmann argumentiert Mrázková, dassspontanePogrome an den litauischen Juden durch Einheimische in den ersten Wochen der Besatzung im Juni 1941 nicht stattgefunden haben, sondern, dass die Gewalttaten und Morde durch deutsche Stellen inszeniert und initiiert wurden, um von der eigenen Täterschaft abzulenken.

Auch verdeutlicht Mrázková, wie stark rechtsradikale und faschistische Gruppen wie Anhänger desEisernen Wolfsin jenen Polizeieinheiten und Verwaltungsstellen vertreten waren, die direkt an den Massenmorden beteiligt waren, denen schließlich über 180.000 Juden in Litauen zum Opfer fielen. Antisemitismus und politische Konkordanz mit dem Nationalsozialismus war somit auf der litauischen Täterseite durchaus ein starkes Motiv. Nicht zuletzt zeigt Mrázková, wie wenig Widerstand die offiziellen litauischen Stellen und anfänglich auch die katholische Kirche dem Judenmord entgegenbrachten.

Widerstand war deutlich stärker, wenn es um die Mobilisierung der litauischen Bevölkerung ging. Die deutschen Besatzer sahen laut Mrázková in Litauen eine Kolonie, die es für den Krieg auszubeuten galt. Zunächst wurden Arbeiter für denReichsarbeitsdienstgesucht auch um sie in Deutschland ideologisch zu schulen, wie Mrázková betont. Später erfolgte die Mobilisierung derOstarbeiter. In beiden Fällen kann Mrázková nachweisen, dass hier dieFreiwilligenunter Zwang geworben wurden. Zunehmend verstanden es die Akteure der litauischenSelbstverwaltung, sich den deutschen Forderungen zu entziehen. Einige litauischeGeneralräteweigerten sich, für die Mobilisierung zu werben oder sie durchzuführen, so dass die Aufstellung einer litauischen Einheit der Waffen-SS 1943 scheiterte.

Während diese Ereignisse bekannt sind, kann Mrázková vor allem die widerständige Haltung des Untergrundes bezüglich der Mobilisierung dokumentieren. Der Widerstand beruhte auf einem breiten gesellschaftlichem Konsens, der von den Sozialdemokraten bis hin zu den Nationalisten reichte und lediglich die Kommunisten ausschloss. Letztere konnten aufgrund der stalinistischen Verbrechen im Jahr 1940 wenig Anhänger finden. Es gab eine recht enge Verflechtung von Mitarbeitern der litauischenSelbstverwaltungunterGeneralratKubiliūnas und dem Widerstand. Die anti-deutsche Presse entwickelte eine rege Aktivität, über 30 Flugschriften wurden bisher gezählt. Auch hier dominierte thematisch die Kritik an der Mobilisierungspraxis. In den Texten wurde das deutsche Kolonialsystem angeprangert, in dem den Litauern die Rolle vonSklavenzukomme, was Berichte von litauischen RAD-FreiwilligenundOstarbeiternim Reich nur bestätigen würden. Auch dieSelbstverwaltungwurde in einem wenig positiven Licht geschildert. Speziell wurde deren deutschfreundliche Haltung kritisiert und deren Beteiligung an der Mobilisierung, was denGeneralrätenin einem Fall den Vergleich mit dem sowjetischen NKWD einbrachte. Konsens war auch hier der Antikommunismus. Gleichzeitig war laut Mrázková nach 1942 eine Strategie erkennbar, die deutschen Mobilisierungsanstrengungen zu boykottieren und die Kräfte für eine sich abzeichnende Auseinandersetzung mit den Sowjets aufzusparen, die aufgrund der deutschen Schwäche unvermeidbar schien und schließlich in die breite Bewegung des Partisanenkampfes der Nachkriegszeit mündete.

Allein die Auswertung der Widerstandspresse macht die Arbeit lesenswert und ermöglicht ein aufschlussreiches Bild der litauischen Gesellschaft unter nationalsozialistischer Besatzung. Mrázková sucht keine Vergleiche zu den baltischen Nachbarstaaten, doch zeigen sich im Ergebnis starke Parallelen. Mrázková hat eine Arbeit vorgelegt, die in der Forschungshaltung als ausgewogen zu bezeichnen ist und durchaus als Lektüre zum Einstieg in die Thematik der litauischen Reaktionen zur nationalsozialistischen Besatzung dienen kann.

Björn M. Felder, Göttingen

Zitierweise: Björn M. Felder über: Marie Mrázková: Deutsche Besatzungspolitik und litauische Gesellschaft 1941–1955. Litauische Reaktionen auf Holocaust und Mobilisierung. Praha: Matfyzpress, 2011. 114 S. = Territoria, 5. ISBN: 978-80-7378-156-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Felder_Mrazkova_Deutsche_Besatzungspolitik.html (Datum des Seitenbesuchs)

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