Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), S. 147-148

Verfasst von: Björn M. Felder

 

Maria Fiebrandt: Auslese für die Siedlergesellschaft. Die Einbeziehung Volksdeutscher in die NS-Erbgesundheitspolitik im Kontext der Umsiedlungen 1939–1945. Göttingen: V&R unipress, 2014. 671 S., 2 Tab., 4 Graph., 3 Ktn. = Schriften des Hannah-Arendt-Instituts, 55. ISBN: 978-3-525-36967-8.

Bisher wurde vor allem die Bedeutung der Rassenbiologie, der Rassenanthropologie, für die Ideologie und die wissenschaftliche und politische Praxis des nationalsozialistischen Staates betont. In jüngsten Arbeiten wird aber immer deutlicher, dass der Rassenhygiene, der Eugenik, als künstlicher genetischer Selektion, eine besondere und dominierende Rolle in der Konzeption und Praxis des NS-Staates zukam. Wie stark die Rassenideologie und Rassenutopie auf ein rassenhygienisches Grundparadigma verweisen, zeigen jüngste Arbeiten zu den NS-Konzepten für die geplante Kolonisierung des „Ostens“, die unter der Bezeichnung „Generalplan Ost“ bekannt wurde. Auch Maria Fiebrandt argumentiert für eine biopolitische und eugenische Ausrichtung des NS-Staates. Anhand der Selektion zukünftiger Siedler für die besetzten Ostgebiete, die sich in erster Linie aus „volksdeutschen“ Umsiedlern aus mittel- und osteuropäischen Staaten zusammensetzten sollten, stellt sie in ihrer umfangreichen Studie die These auf, dass während der „Durchschleusung“ der Umsiedler, also im Rahmen der Untersuchungen während der Einbürgerung, eugenisch-genetische Untersuchungen durchgeführt wurden, deren Ergebnis maßgeblich für die zukünftigen Verwendung als Siedler, aber auch für die Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft ausschlaggebend war. Hierfür hat die Autorin die Praxis der „Durchschleusung“ im Kontext von Umsiedlung, Internierung und Untersuchung der Umsiedler untersucht.

Sie beginnt ihre Studie mit einem Überblick zu den rassenhygienischen Paradigmen des NS-Staates, mit einem Schwerpunkt bei der Euthanasie und der Volkstumspolitik unter rassenhygienischen Aspekten. In einem weiteren Kapitel erfolgt eine detaillierte Darstellung der Umsiedlungspolitik, der beteiligten SS-Hauptämter und ihrer Unterabteilungen wie der „Volksdeutschen Mittelstelle“ sowie der praktischen Ausführung speziell am Beispiel Ostpolens, des Baltikums und Rumäniens. Im Hauptteil wird die Ankunft der Umsiedler im Reich, deren Erfassung und rassenbiologische, medizinische und rassenhygienische Durchleuchtung untersucht. Es folgt ein Exkurs zum „Sonderfall“ der Volksdeutschen aus Südtirol.

Während bereits frühere Arbeiten auf die rassenbiologische Selektion der Umsiedler verwiesen haben (Isabel Heinemann: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas. Göttingen 2003), versucht hier die Autorin auf einer breiten Quellenbasis nachzuweisen, dass die Selektionskriterien für die zukünftigen Ostsiedler einem eugenischen Paradigma folgten, was auf eine grundsätzliche rassenhygienisch motivierte Konstruktion der Ostsiedlungsplanung verweise. Der breite historiographische Vorlauf, die Schilderung der Planung und des Ablaufes der Umsiedlung sind hierfür nicht unbedingt notwendig. Doch begründet die Autorin ihre zentrale These mit einer weiteren, der zufolge die volksdeutschen Gemeinschaften in den verschiedenen Teilen Osteuropas zur Zeit der Umsiedlung eugenische Vorstellungen als festen Bestandteil in ihre nationale bzw. rassenstaatliche Minoritätsidentität integriert hatten – was im übrigen bereits von andern Autoren für Rumänien sowie das Baltikum dargestellt worden war (zu den Rumäniendeutschen vgl. Tudor Georgescu: Ethnic minorities and the eugenic promise: the Transylvanian Saxon experiment with national renewal in inter-war Romania, in: European Review of History 17 [2010] 6, S. 861–880; zu den Deutschbalten in Estland und Lettland vgl. Björn Felder: From Proto-Eugenics to Euthanasia: Baltic German Eugenics in Latvia and Estonia 1890–1940, Vortrag auf der Konferenz: „The German Archipelago: German Minorities and Interwar Eugenics“, 17.–18. Dezember 2011, Oxford University, Balliol College). Zudem habe der NS-Staat rassenhygienische Ideen in die volksdeutschen Gemeinden exportiert, die dort zunehmend rezipiert wurden. Des weiteren führt die Autorin aus, wie bereits auch psychisch Kranke unter den Umsiedlern nach deren Ankunft in den Aufnahmelagern isoliert wurden. Meist wurden die psychiatrischen Patienten dann früher oder später in der Phase der „stillen“ Euthanasie nach 1941 durch Medikamente oder Hunger ermordet.

Jeder Umsiedler erhielt eine Gesundheitskarte, in der eine „Rassennote“ vermerkt wurde (S. 458), die mit den römischen Ziffern I bis IV bezeichnet wurde. Zudem wurde die politische Haltung gegenüber dem Reich festgehalten. Die entsprechenden Wertungen waren maßgeblich nicht nur für die Einbürgerung, sonder ebenso auch schon für die Zulassung zur geplanten Ostsiedlung. Hauptgesichtspunkt waren eugenische Überlegungen (S. 466), wie die Autorin nachweisen kann.

Dass die Arbeit auf umfangreiches Material zurückgreift, ist Stärke und Schwäche zugleich. Die wichtigen Erkenntnisse zur eugenisch orientierten Selektion der zukünftigen „Ostsiedler“ nehmen insgesamt nur 120 Seiten des Buches ein. Den übrigen Platz verwendet die Autorin auf die ausführliche Darstellung der Planung und Praxis der Umsiedlung. Zudem leidet die Arbeit an der typischen Krankheit deutscher Promotionen, die auf eine Fülle von Material, Daten, Zitaten und Ereignisgeschichte setzen, die Grundthesen aber nicht komprimiert darzustellen vermögen. Im Grunde muss sich der Leser sein Bild selbst zusammenfügen. Im Rahmen dieses enzyklopädischen Ansatzes werden zu viele unterschiedliche Themen auf einmal bearbeitet. So bleibt vieles, was etwa die ideologische Gleichschaltung der volksdeutschen Gemeinden angeht, unklar, etwa die Rolle von Institutionen des Reiches bei der Verbreitung rassenhygienischer Vorstellungen in den dreißiger Jahren. Die oft diskutierte Frage, ob die deutschen Minderheiten von sich aus auf die NS-Ideologie einschwenkten oder ob dies das Ergebnis erfolgreicher Propaganda aus dem Reich war, bleibt auch hier unbeantwortet.

Betrachtet man den Erkenntnisgewinn zur rassenhygienischen Konzeption der NS-Ostsiedlung und die praktische Umsetzung im Rahmen der „Durchschleusung“ der volksdeutschen Umsiedler, stellt die Arbeit aber ganz sicher einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der nationalsozialistischen Utopie für den Siedlungsraum im Osten dar.

Björn M. Felder, Göttingen

Zitierweise: Björn M. Felder über: Maria Fiebrandt: Auslese für die Siedlergesellschaft. Die Einbeziehung Volksdeutscher in die NS-Erbgesundheitspolitik im Kontext der Umsiedlungen 1939–1945. Göttingen: V&R unipress, 2014. 671 S., 2 Tab., 4 Graph., 3 Ktn. = Schriften des Hannah-Arendt-Instituts, 55. ISBN: 978-3-525-36967-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Felder_Fiebrandt_Auslese_fuer_die_Siedlergesellschaft.html (Datum des Seitenbesuchs)

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