Narody Zapadnoj i Srednej Sibiri: kul’tura i ėtni­českie processy [Die Völker des westlichen und mittleren Sibirien. Kultur und ethnische Prozesse]. Izdat. Nauka Novosibirsk 2002. 322 S., Abb. = Kul’tura narodov Rossii, 6.

Der anzuzeigende Sammelband hat ein ehrgeiziges Ziel: Die in ihm versammelten ethnographischen Untersuchungen sollen die Vorhersage und Prophylaxe ethnischer Spannungen ermöglichen und somit „in der Praxis der Nationalitätenpolitik angewendet werden können“ (S. 24). Zu diesem Zweck wurden in West- und Zentralsibirien so unterschiedliche Ethnien und Völker wie die Kasachen, die Letten und Esten, die Deutschen, Russen, Selkupen, Sibirischen Tataren, Čuvašen, Čulymtürken und Schoren in Längsschnittuntersuchungen seit den siebziger und achtziger Jahren wiederholt zu ihrer materiellen und geistigen Kultur befragt.

Bereits in den jeweils einführenden historischen Kurzüberblicken ist indessen eine gewisse Eindimensionalität zu bemerken. Dass die Darstellung mitunter ganz und gar den ideologischen Euphemismen der Sowjetzeit verhaftet ist, etwa wenn es um die Deportationen der Esten und Letten (I. V. Lotkin) oder der Deutschen (T. V. Smirnova) nach Sibirien geht, ist nur ein Teil des Problems. Unbegreiflich ist die Auslassung einer Reihe von Faktoren, die für die Prozesse ethnischer Selbstidentifikation als zentral gelten müssen: Nationalitätenpolitik im affirmativen wie im repressiven Sinne, die rechtlichen und administrativen Rahmenbedingungen und, nicht zuletzt, das jeweilige lebensweltliche Umfeld in den gemischtnationalen Gebieten. Dass diese Umstände auch bestehenden Traditionen völlig neue Bedeutung verleihen konnten, wird vollständig ignoriert.

Stattdessen arbeiten auch die empirischen Studien mit einem essentialistischen Konzept der ethnischen Kultur (im Beitrag von G. M. Patruščeva über die Schoren finden sich zudem noch Elemente einer ethnographischen Rassentheorie; S. 277). Die Autoren des Sammelbandes lesen von der Bauweise der Häuser, der Kleidung, den Speisen oder der Anzahl traditioneller Feste der jeweiligen Bevölkerungsgruppe wie von einem Thermometer den aktuellen Stand ihrer ethnischen Entwicklung ab. Das geht nicht immer reibungslos: Lotkin bemerkt in seinem Beitrag über die Letten und Esten in Sibirien, dass bestimmte typische bauliche Eigenheiten der Häuser von den Befragten überhaupt nicht als Ausdruck ethnischer Identität wahrgenommen werden (S. 64). Diskrepanzen zwischen Fremd- und Selbstzuschreibungen finden sich auch besonders bei den Sibirischen Tataren (S. 179; N. A. Tomilov) oder den unterschiedlichen Bezeichnungen für die Čulymtürken (S. 254; V. P. Krivonogov). Solche Stolpersteine aber geben in keiner der Untersuchungen Anstoß zu einer genaueren Behandlung der Vorgänge, in denen sich Ethnos als Kategorie der Selbstbeschreibung etabliert.

Mit dieser Kritik soll die Bedeutung der behandelten Themenfelder für die Herausbildung und Stabilisierung ethnischer Gruppen überhaupt nicht bestritten und die Leistung, die in der immensen Materialsammlung steckt, nicht herabgewürdigt werden. Doch wenn die Fischspeisen der Selkupen (L. T. Šargorodskij), die Milchspeisen der Kasachen (S. K. Achmetova und O. M. Bronnikova) und die Fleischgerichte der sibirischen Russen (M. A. Žugnova) als besonders persistente Indikatoren ethnischer Eigenarten gewertet werden, so wüsste man gerne, inwieweit die Menschen selbst dieser Lesart folgen würden.

Auch scheint die häufig gebrauchte starre Aufteilung der kulturellen Elemente in traditionell-ethnische auf der einen und russische bzw. westeuropäische auf der anderen Seite kaum geeignet, die komplexen kulturellen Wechselwirkungen zu erfassen, die den ethnischen Prozessen in Mischgebieten zugrundeliegen. Gerade Fragen der Deethnisierung (besonders deutlich bei den Čulymtürken und bei den von D. G. Korovuškin behandelten Čuvašen) oder auch der bewussten Reethnisierung einzelner Bereiche des Lebens lassen sich kaum außerhalb eines größeren kulturellen Zusammenhangs erschließen.

Zuletzt führt die im Forschungsansatz begründete Entkontextualisierung auch dazu, dass in den Beiträgen interethnische Spannungen fast vollständig ausgeblendet bleiben. Ob sich auf diese Weise Entwicklungen voraussagen und ethnische Konflikte vermeiden lassen, darf bezweifelt werden.

David Feest, Göttingen

Zitierweise: David Feest über: Narody Zapadnoj i Srednej Sibiri: kul’tura i ėtničeskie processy. Izdat. Nauka Novosibirsk 2002. = Kul’tura narodov Rossii, 6. ISBN: 5-02-032241-5, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Feest_Narody_Zapadnoj_i_Srednej_Sibiri.html (Datum des Seitenbesuchs)