Ruth Bettina Birn Die Sicherheitspolizei in Estland 1941–1944. Eine Studie zur Kollaboration im Zweiten Weltkrieg. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn [usw.] 2006. 286 S. = Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart.

Im Juli 2002 sorgte Ephraim Zuroff vom Simon-Wiesenthal-Zentrum für einiges Aufsehen in den baltischen Staaten, als er eine Belohnung von 10.000 Dollar für Informationen aussetzte, die zur Verfolgung und Verurteilung örtlicher Kriegsverbrecher führen würden. Dies war der vorläufige Höhepunkt einer Auseinandersetzung, in der Zuroff mitunter recht pauschal die Mittäterschaft der Esten, Letten und Litauer am Holocaust behauptete. Jene bestanden dagegen zunehmend stur darauf, nichts mit den Gräueltaten zu tun gehabt zu haben. Eine neue Studie von Ruth Bettina Birn, die bis 2005 als Chefhistorikerin der „Sektion für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ des kanadischen Justizministeriums tätig war, bietet nun eine Chance, die Diskussion zu versachlichen und zudem am estnischen Beispiel Mechanismen der Kollaboration nachzuvollziehen, die auch jenseits des Fallbeispiels zu einem besseren Verständnis dieses Phänomens beitragen können.

Gegenstand von Birns Untersuchung ist die Tätigkeit der deutschen Sicherheitspolizei während der Nazibesetzung Estlands in den Jahren 1941 bis 1944. Dabei interessiert Birn besonders, in welcher Weise die deutsche Besatzungsmacht örtliche Kräfte in ihre Tätigkeit mit einbezog und wie ideologische Deutungsmuster der Nationalsozialisten eine Verbindung mit den historischen Erfahrungen der Esten eingingen. Eben diese Behandlung des Gegenstands von beiden Seiten her macht die Arbeit so wertvoll. Fern davon, estnische Kollaborateure von vornherein als aktive Nationalsozialisten zu qualifizieren oder sie umgekehrt nur als passive Spielfiguren in den Händen der Besatzungsmacht darzustellen, arbeitet sie aus Quellen des Estnischen Staatsarchivs in Tallinn heraus, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestanden und wie sich beide Seiten gegenseitig beeinflussten und radikalisierten.

Eine wichtige Rolle spielte dabei für die Esten die Erfahrung der sowjetischen Okkupation von 1940–1941. Diese war mit Terror und Massendeportationen einhergegangen , die tiefe Risse in der Bevölkerung zurückgelassen hatten. Bereits vor dem vollständigen Einmarsch der deutschen Truppen begannen Gruppierungen des aus ehemaligen antisowjetischen Partisanen gebildeten „Selbstschutzes“ (Omakaitse) Kommunisten und deren wirkliche oder vermeintliche Unterstützer zu verfolgen und um­zubringen. Die Tätigkeit der „auf lokalen Kontakten und aus lokalem Konsens“ (76) aufgebauten Einheiten hatte unterschiedlichste Motive: unmittelbares Rachebedürfnis, politische, aber auch persönliche Gründe, Willkür und lokale Zwiste. Es ist eine der großen Stärken von Birns Arbeit, dass sie uns mit ihren dichten Fallbeschreibungen immer wieder vor Augen führt, dass Estland ein kleines Land ist, in dem der unmittelbare Kontakt und die gegenseitige Beobachtung eine besonders große Rolle spielten.

Diese lokalen historischen Erfahrungen, Netzwerke und Frontstellungen in den eigenen ideologischen Plan einzubinden, war das Ziel der deutschen Besatzungsmacht, und Birn zufolge war man dabei durchaus erfolgreich. Die noch weitgehend außerhalb der Kontrolle der Besatzungsmacht ablaufende Kommunistenjagd des Selbstschutzes wurde ab 1942 formalisiert und beschleunigt. Dabei spielte die Sicherheitspolizei eine zentrale Rolle. Birn räumt hier mit zwei Mythen auf. Erstens widerlegt sie die Meinung, die estnischen Mitarbeiter dieser Einheiten seien passive Befehlsempfänger gewesen. Im Gegenteil: Das „estnisch-deutsche Stukturmodell“ bestand aus einem zweigliedrigen Verwaltungssystem, in dem der estnischen Seite zwar kein letztinstanzliches Entscheidungsrecht zugestanden wurde, durchaus aber ein breiter Spielraum für eigene Initiativen bei den Ermittlungsarbeiten gegen Kommunisten, Juden und als „asozial“ gebrandmarkte Esten. Martin Sand­berger, der als Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS in Estland eine zentrale Rolle spielte, war um eine möglichst einvernehmliche Zusammenarbeit mit den estnischen Polizeibeamten bemüht und befand sich damit ganz auf einer Linie mit Himmler, der die Esten als ein den Deutschen rassisch verwandtes Volk eingestuft hatte. Zweitens kann die Autorin zeigen, dass die estnischen Mitarbeiter der Sicherheitspolizei keinesfalls gesellschaftliche Außenseiter waren. Vielmehr waren viele von ihnen bereits in den Jahren der unabhängigen Estnischen Republik der Zwischenkriegszeit im Polizeidienst tätig gewesen, sie gehörten also zum alten staatstragenden Establishment, obgleich sie nur einen sehr kleinen Teil davon ausmachten (52).

Dass in Bezug auf die Kommunisten die Übereinstimmung zwischen deutschen und estnischen Polizeibeamten besonders groß war, erklärt die Autorin aus den traumatischen Erfahrungen der sowjetischen Okkupation 1940–1941, die sie aus Zeugenaussagen in Prozessen gegen Kommunisten herausarbeitet. An dieser Stelle stimmt die Quellenbasis misstrauisch. Zwar macht die Verfasserin bereits in der Überschrift des Unterkapitels klar, dass sie in erster Linie an den Feindbildern und der „rekonstruierten Kommunistenzeit“ als Hintergrund der Kollaboration mit den Deutschen interessiert ist. Dennoch hat die Darstellung häufig den Charakter einer Analyse der gesellschaftlichen Umwälzungen und des „roten Terrors“ während der kommunistischen Besatzung, und dafür eignen sich die Vernehmungsprotokolle der deutschen Besatzungsmacht, wie Birn selbst quellenkritisch anmerkt (137), nur bedingt. Hier wäre es angebracht gewesen, mehr Forschungsliteratur hinzuzuziehen, um der Beschreibung eine breitere Basis zu verleihen.

Der Terror der Kommunisten prägte auch das Bild der estnischen Polizisten bei der Verfol­gung von Juden, und hier gingen deutsche und estnische Vorstellungen auseinander. Während die Esten in erster Linie nach Kommunismusverdächtigen suchten, war für die Deutschen nur die Frage der ethnischen Zugehörigkeit von Belang. Der nationalsozialistische Rassenantisemitismus traf auf die Bereitschaft der Esten, eine enge Verbindung zwischen Judentum und Kommunismus anzunehmen, aber auch, jene Juden davon auszunehmen, bei denen man Sympathien für den Kommunismus aus­schloss. Die deutsche Besatzungsmacht ließ freilich solche Argumente nicht gelten. Die nach dem Rückzug der Roten Armee in Estland verbliebenen 1.000 Juden wurden bereits im ersten halben Jahr unter deutscher Besatzung ermordet. Später wurden Juden von außerhalb Estlands in das Lager Jägala sowie in das Konzentrationslager Vaivara und seine Nebenlager gebracht, denen Birn jeweils ein Unterkapitel widmet.

Bedurfte die Zusammenarbeit bei der Ermordung der Juden noch der neuen Konstruktion des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Juden und Kommunismus, konnte die deutsche Besatzungsmacht bei ihrem Vorgehen gegen Zigeuner, aber auch gegen „Gewohnheitsverbrecher“ und „Asoziale“ auf Stereotype und Vorurteile bauen, die sich „aus der eigenen Anschauungswelt der häufig alt gedienten estnischen Kriminalpolizeibeamten“ speisten (191). Insgesamt galt für die Verfolgungspraxis in Bezug auf alle Opfergruppen, dass die deutsche Polizeiverwaltung, allen voran Martin Sandberger, die von den estnischen Polizeibeamten vorgeschlagenen Strafen oft drastisch erhöhten. Auf der anderen Seite bremste die deutsche Besatzungsmacht die estnischen Kollegen manchmal dort, wo sie nur lokale Motive am Werk sah.

Birns Darstellung endet mit einem Kapitel über die juristische Aufarbeitung der während der deutschen Besatzungszeit in Estland begangenen Verbrechen sowohl in sowjetischer Zeit als auch in Deutschland und im wieder unabhängigen Estland. Auch hier zeichnen sich ihre Schlüsse durch besondere Differenziertheit aus. Erfolg und Misserfolg dieser Verfahren waren ihrer Meinung nach von ganz unterschiedlichen Faktoren abhängig: Resten nationalsozialistischen Denkens oder einer Komplizenschaft mit den Tätern ebenso wie von der Gesetzes- und Beweislage.

Birns Pionierstudie ist nicht nur ein wertvoller neuer Beitrag zur estnischen Geschichte. Sie zeigt auch in eindrucksvoller Weise, wie die nationalsozialistische Herrschaft die Kategorien ih­res Vernichtungskrieges nach unten kommunizierte, wo sie von der einheimischen Bevölkerung in ihrer eigenen Weise aufgegriffen wurden. Gerade die umsichtige Beschreibung der estnischen Seite dieser Geschichte gibt aufschlussreiche Hinweise darauf, wie nationalsozialistische Besatzungspolitik im Baltikum funktionierte.

David Feest, Göttingen

Zitierweise: David Feest über: Ruth Bettina Birn: Die Sicherheitspolizei in Estland 1941-1944. Eine Studie zur Kollaboration im Zweiten Weltkrieg. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn [usw.] 2006. = Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart. ISBN: 978-3-506-75614-5, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Feest_Birn_Sicherheitspolizei.html (Datum des Seitenbesuchs)