Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 2, S. 349-350

Verfasst von: Sandra Evans

 

Mischa Gabowitsch: Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur. Berlin: Suhrkamp, 2013. 441 S., Abb., 1 Kte., Tab. = edition suhrkamp, 2661. ISBN: 978-3-518-12661-5.

„.…ein Richter, der ein gesetzwidriges Urteil fällt und mich dadurch beraubt, ist ein Verbrecher. […] Wenn der Staat mich nicht schützt, dann muss ich mich selbst beschützen.“ (S. 268) Das sind die Worte von Anna Pawlowna Sokolowa, einer Tschernobyl-Veteranin mit Recht auf staatliche Invaliden-Vergünstigungen. Als 2004 bekannt wurde, dass diese von der Regierung abgeschafft werden sollen, gingen Tschernobyl-Veteranen aus Protest auf die Straße. Das lateinische Wort demonstrare bedeutet „hinweisen, zeigen“ und ein protestierender Mensch ist jemand, laut Camus, der nein UND ja sagt. Das Nein weist auf das Bestehen einer Grenze gegenüber der Macht hin, die diese Grenze nicht beachtet, und im Protest sagt der Protestierende zugleich ja zu dieser Grenze und stimmt unmittelbar einem Teil eines Selbst zu.

Mit Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur hat Mischa Gabowitsch ein 434 Seiten starkes Buch vorgelegt, das einen sehr breiten und zugleich tiefen, wenn nicht dichten Einblick in ein Russland ermöglicht, wie man es von außerhalb nur selten zu sehen bekommt. Sein Bestreben war es, „etwas von der Atmosphäre der ersten Protestmonate einzufangen und Entwicklungen zu beschreiben, die aus der Perspektive des Zeitgenossen wichtig erscheinen …“ (S. 367) Und das ist ein sehr wertvoller Blick, besonders hinsichtlich einer (bewusst oder unbewusst) verzerrten Medienberichterstattung, die in beiden Medienlandschaften aufzufinden ist. Die Tiefe erreicht Gabowitsch mit exemplarischen Geschichten und Schicksalen von Menschen, die jedes Kapitel einleiten, wie etwa der sechzigjährigen Anna Pawlowna, deren Geschichte das Kapitel Gewaltfreiheit und Gewaltphantasien einleitet. Sie befürwortet nämlich öffentlich das Attentat auf eine Richterin: „Ein Mensch, der ein Verbrechen begeht, muss irgendwann seine Verantwortung dafür spüren. Heute bin ich dazu bereit. Wenn niemand mich und meine Rechte schützt, bin ich selbst zum Kampf gegen die Verbrecher bereit, notfalls mit Gewalt.“ (S. 268)

Die Breite des Einblicks wird unter anderem durch den Bezug zu anderen internationalen Protestbewegungen hergestellt. Zwar bietet Gabowitsch einen gesonderten und momentanen Blick auf eine Gesellschaft, mit ihren Eigenheiten und historischen Umständen, dennoch bildet dieser ein wichtiges Puzzlestück im Gesamtbild der sich auch auf globaler Ebene neu entwickelnden Protestkultur. Time hat 2011 den „Protestierenden“ als Person des Jahres gekürt, nachdem zwei Regierungssysteme (Tunesien und Ägypten) mit Protestbewegungen gestürzt worden waren und die sich aufbäumende Protestwelle andere in Missständen lebende Personen mit sich zu reißen schien. Das in den letzten Dekaden vergessene Instrument politischer Auseinandersetzung, der Wunsch, wirkungsvoll gegen Regierungen protestieren zu können, die als korrupt und illegitim gelten, schien eine Konjunktur zu erleben. Gabowitschs Frage, inwiefern die zeitliche Nähe zum Arabischen Frühling und den weltweiten Occupy-Protesten ein Zufall war oder inwiefern – und hier bedient er das von ihm selber verneinte Vorurteil, dass Russlands Bürger „apathische Protestmuffel“ (S. 26) sind – „Russland in eine globale Bewegung hineingezogen“ (S. 28) wurde, ist nicht eindeutig zu beantworten.

Als Zwischenbericht aus einer gesellschaftlichen Bewegung und der Forschung darüber gedacht, stützt sich dieses Buch auf umfangreiche Interviews, Foto- und Videoaufzeichnungen sowie Internetdiskussionen und ‑berichte. Entsprechend vermittelt Gabowitsch tatsächlich die allgemeine Atmosphäre des Protests wie auch die Emotionen der Bürger und beteiligter gesellschaftlicher Gruppierungen, die er eng verwoben in einem Geflecht historischer, politischer und sozio-kultureller Gegebenheiten verortet. Dadurch wird ein ausgewogenes mehrdimensionales Gesamtbild erzeugt.

Im ersten Kapitel zur Ausgestaltung der Machtvertikalen und nationalen Einheit thematisiert Gabowitsch inwiefern „Das System Putin“ nicht nur ein politisches, sondern auch ein emotionales Regime ist. (S. 71) Mit dem zweiten Kapitel Der Aufstand der Beobachter richtet er den Blick auf die einheimischen Wahlbeobachter, die eine Schlüsselrolle beim Lostreten des Protests gespielt haben. Er sieht bei ihnen eine „zunehmende Professionalisierung von Akteuren der Selbstorganisation und der kommunalen Selbstverwaltung“ (S. 89). Im dritten Kapitel Die Struktur des Protests beschreibt er die „strukturellen Veränderungen gesellschaftlicher Selbstorganisation“ (S. 165), die letztendlich die Zielsetzung und die Methoden beeinflussten, wie eine breite Aufmerksamkeit für das eigene Anliegen erzielt wurdehier lag das neue an der Protestkultur und es stellt auch die Verbindung zu Camus her. Für diese neue Protestkultur darf die Rolle der modernen Informationstechnik und des Internets nicht unterschätzt werden, die potentiell einen Ansteckungseffekt auslösen, einerseits in der persönlichen Wahrnehmung als Protagonist und andererseits in der Möglichkeit, mit anderen (protestierenden) Personen in Kontakt zu treten. Eine bezeichnende und international wahrgenommene Protestaktion war Der Fall Pussy Riot, dem das vierte Kapitel gewidmet ist. Hier wird die (auch historisch verankerte) enge Verbindung von Kunst und Politik, aber auch die Rolle der Kirche thematisiert. Im fünften Kapitel Gewaltfreiheit und Gewaltphantasien verhandelt der Autor in gewisser Weise die Ambivalenz der Gewalt und fragt u.a., wie es in einem Land, in dem Gewalt zur Normalität gehört, dazu kommt, dass der politische Protest friedlich bleibt. Inwiefern „der staatliche Gewaltapparat“ zu einem wichtigen politischen Entscheidungsorgan seit Putins Amtsantritt geworden ist und weiterhin eine wichtige Rolle im System Putin spielen wird, erläutert Gabowitsch im siebten Kapitel mithilfe eines ausführlichen Überblicks über die unterschiedlichen staatlichen Organe, inklusive der russischen Armee, der Geheimdienste und der Polizei. Die Transnationale Dimension wird im achten Kapitel behandelt, primär aus der Perspektive der russischsprachigen politisierten Diaspora, die allerdings nur bedingt Einfluss auf die lokalen Ereignisse nimmt und in gewisser Weise die Stärken und Schwächen der Protestbewegung in Russland selbst widerspiegelt. Die Zwischenbilanz als letztes Kapitel deutet auf die Unabgeschlossenheit und (hoffentlich) Weiterentwicklung der Protestkultur hin.

Obwohl es immer wieder vereinzelt Protestaktionen in Russland gab, um auf meist lokale Forderungen aufmerksam zu machen, so war die Ankündigung der dritten Amtszeit ein Schlüsselerlebnis für viele. Gabowitsch äußerst sich überzeugt, dass die Protestbewegung nicht nur eine momentane Herausforderung für das politische System Putin gewesen sei, sondern vielmehr eine Revolution der Sichtweisen und der Gefühle Menschen, die aus ihrer vermeintlichen Einsamkeit zusammen mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft hinaus auf die Straße und zum Handeln getrieben wurden. Die Gefahr dieser neuen Protestbewegung hat Putin erkannt und er greift deswegen gegenwärtig wohl härter durch – z.B. mit dem Gesetz über NGOs (verabschiedet 2012), die sich als „ausländische Agenten“ zu erkennen geben müssen, wenn sie Gelder aus dem Ausland erhalten –,  um auf die eine oder andere Weise die (R)Evolution gesellschaftlicher Selbsterkenntnis zu unterbinden. Die langfristigen Auswirkungen der neuen Protestkultur ob sie nach dem Niedergang in der patriotischen Aufwallung von 2014 jetzt in der Krise eine Wiederbelebung erfährt, ob sie gewaltfrei bleibt, ob sie sich gar institutionalisiert müssen sich noch zeigen, und Gabowitsch wird sie hoffentlich erfassen und Bilanz ziehen.

Sandra Evans, Tübingen

Zitierweise: Sandra Evans über: Mischa Gabowitsch: Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur. Berlin: Suhrkamp, 2013. 441 S., Abb., 1 Kte., Tab. = edition suhrkamp, 2661. ISBN: 978-3-518-12661-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Evans_Gabowitsch_Putin_kaputt.html (Datum des Seitenbesuchs)

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