Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), 1, S. 139-141

Verfasst von: Simon Ertz

 

Rolf Binner / Bernd Bonwetsch/ Marc Junge: Massenmord und Lagerhaft. Die andere Geschichte des Großen Terrors. Berlin: Akademie Verlag, 2009. 821 S., Tab. = Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Moskau, 1. ISBN: 978-3-05-004662-4.

Stalinismus in der sowjetischen Provinz 1937–1938. Die Massenaktion aufgrund des operativen Befehls № 00447. Hrsg. von Rolf Binner, Bernd Bonwetsch und Marc Junge. Berlin: Akademie Verlag, 2010. 729 S., Tab. = Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Moskau, 2. ISBN: 978-3-05-004685-3.

Stalinizm v sovetskoj provincii: 1937–1938 gg. Massovaja operacija na osnove prikaza № 00447 [Stalinismus in der sowjetischen Provinz 1937–1938. Die Massenaktion aufgrund des operativen Befehls № 00447]. Mark Junge, Bernd Bonveč, Rol’f Binner (sost.). Moskva: Rosspėn, Germanskij istoričeskij institut v Moskve, 2009. 927 S., Tab. = Istorija stalinizma. ISBN: 978-5-8243-1242-3.

Seit vielen Jahren haben Rolf Binner und Marc Junge an der Offenlegung der unter strenger Geheimhaltung geplanten und durchgeführten Kernmaßnahme des „Großen Terrors“ gearbeitet: der „Massenoperationen“ gemäß dem auf Politbürobeschluss hin erlassenen Befehl Nr. 00447 des NKVD. Nach der Veröffentlichung mehrerer einflussreicher Aufsätze und Dokumentationen haben sie nun gemeinsam mit Bernd Bonwetsch ein umfangreiches Forschungsprojekt unternommen, in dessen Rahmen zahlreiche russische und einige ukrainische Historiker anhand geheimdienstlicher Quellen die Durchführung dieser Inhaftierungs- und Hinrichtungskampagne in sechs verschiedenen, repräsentativ ausgewählten Gebieten und Regionen der Sowjetunion untersucht haben. Die vorliegenden Bände sind, flankiert von zahlreichen weiteren Publikationen in russischer Sprache, zentrales Ergebnis dieses Projektes und werden auf absehbare Zeit unverzichtbare Referenzwerke bleiben. Ihre Bedeutsamkeit ist umso größer, als vielerorts der Zugang zu wichtigen Quellen noch immer erschwert und verwehrt wird.

Zwischen Juli 1937 und November 1938 fielen dem Befehl Nr. 00447 und seiner Ausführung etwa 800.000 Menschen zum Opfer, von denen annähernd die Hälfte erschossen, der Rest zu hohen Lagerstrafen verurteilt wurde. Die parallel stattfindenden „nationalen Operationen“, die etwa ebenso viele Opfer forderten, sowie die Tätigkeit der „Miliztroikas“, die in jener Zeit im Schnellverfahren massenweise Haftstrafen verhängten, berühren die Autoren nur am Rande, was angesichts des Themenumfangs verständlich und dennoch zu bedauern ist, da auch sie Teil der gewaltigen Terrorwelle waren, mit der die Bolschewisten in jenen Jahren die Sowjetunion überzogen.

Der Dokumentenband liefert eine ausführlich kommentierte Zusammenstellung behördlicher Quellen zur Steuerung und zum Ablauf der Terrorkampagne. Schwerpunkte sind deren chronologische und prozessuale Entwicklung von der Planung über die Durchführung bis zur Beendigung, darüber hinaus die Kommunikation zwischen dem Zentrum und den regionalen NKVD- und Parteikadern, die Mechanismen und Praktiken der Inkriminierung und Aburteilung der Opfer durch die eigens geformten Troikas sowie die innerbehördlichen Nachspiele der Kampagne unmittelbar nach deren Einstellung. Eine detaillierte Aufstellung verfügbarer Opferzahlen fehlt ebenso wenig wie Informationen zur Besetzung der regionalen Troikas. Der Sammelband enthält 24 (in der russischen Version 33) Beiträge, die zahllose wertvolle Einblicke in die Mechanismen der Verfolgungsmaschinerie liefern. Die meisten Autoren untersuchen die Zusammensetzung der Opferkontingente und die Vorgehensweise der ausführenden Behörden auf regionaler und lokaler Ebene; fast alle präsentieren aus lokalen Archiven gewonnene Statistiken. Dass es dabei zu gelegentlichen Wiederholungen und einer gewissen Faktenlastigkeit mancher Texte kommt, beeinträchtigt mitunter die Lesbarkeit, illustriert jedoch zugleich die unionsweit einheitliche Organisation des Terrors und die formalisierte und standardisierte Buchführungspraxis der Täter.

In der Gesamtschau der Dokumente und Einzeluntersuchungen ergibt sich das bislang klarste Bild der Prozesshaftigkeit des Massenterrors. Obwohl die Herausgeber ihre vorrangige Aufgabe in der Dokumentation, nicht der Interpretation sehen, wirkt ihre fundierte Darstellung zentraler Handlungsketten und -abläufe dennoch als gewichtiger Diskussionsbeitrag zu fortdauernden Kontroversen um das Wesen des Terrors.

Standen sich etwa in der Debatte zu den Verantwortlichkeiten bislang die Positionen gegenüber, das Zentrum allein habe den Massenterror in perfekter Voraussicht planvoll inszeniert, oder es sei im Gegenteil von radikalen Stimmen und Kräften in den Apparaten nachgerade zum Ausrufen des Terrors und der folgenden Ausweitung der Opferzahlen gezwungen worden, wird nunmehr erkennbar, dass die Handlungslogik der führenden Bolschewisten und jene des von ihnen geschaffenen Apparates vielmehr bündig ineinandergriffen. Die wesentlichen involvierten Akteure und Organe des bolschewistischen Parteistaates – dem federführenden NKVD arbeiteten auch die reguläre Miliz sowie Partei- und Gewerkschaftsgliederungen zu – arbeiteten nicht etwa gegeneinander, sondern vielmehr in die gleiche Richtung und wirkten somit wechselseitig verstärkend. Das gilt insbesondere für die Bestimmung und die darauf folgenden, iterativen Erhöhungen der Verfolgungs- und Erschießungszielvorgaben, die der Aktion erst ihr gewaltiges Ausmaß gaben. Denn weder war der Apparat programmiert, Direktiven des Zentrums kritisch zu hinterfragen, geschweige denn abzuschwächen, noch war das Zentrum darauf eingestellt, die ihm vom Apparat mit Nachdruck präsentierten Verfolgungsanträge zurückzuweisen.

Die daraus resultierende dynamisierte Ausweitung des Terrors lässt sich in beiden Bänden sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene deutlich nachvollziehen. Bolschewisten und Tschekisten bezeichneten die mit Befehl Nr. 00447 initiierte Massenverfolgung oft als „Kulakenoperation“, was allerdings nur die ursprüngliche Hauptstoßrichtung der Aktion benennt. Denn zu den ehemaligen „Kulaken“ unter den Opfern (die oft genug noch nicht einmal dieser von den Bolschewisten selbst geschaffenen Kategorie entsprachen) kamen immer weitere Kategorien von „Feinden“ und Ordnungsstörern hinzu, deren Ausschaltung in den Augen des Systems alsbald ebenso dringlich und opportun erschien. Damit aber erübrigt sich die Frage nach Zielgerichtetheit oder Ziellosigkeit, nach Kontrolliertheit oder Unkontrolliertheit der Aktion. Wesentliches Merkmal des Massenterrors war gerade seine bestimmte Unbestimmtheit, weil das Zentrum von den ausführenden Akteuren verlangte, die dehnbare Vision der grundlegenden „Säuberung“ der Sowjetgesellschaft konkret, gründlich und endgültig umzusetzen. Stets in enger Tuchfühlung mit dem Zentrum arbeiteten sich die Exekutivstrukturen an den jeweils naheliegenden Themen und Problemen ab. Aus diesem Zusammenspiel von schematischen Feindbildern und den Gegebenheiten der Gesellschaft, auf die sie projiziert wurden, lassen sich sowohl die Kontinuitäten als auch die Variationen und Mutationen der Verfolgungsmuster erklären. So rückten im Zeitverlauf in manchen Regionen insbesondere ehemalige „Weiße“ ins Fadenkreuz, in anderen verstärkt ‚gewöhnliche‘ Kriminelle. Generell wurden die als besonders problematisch geltenden Gruppen von Geistlichen und Kosaken besonders unerbittlich verfolgt und getötet; ebenso wurde mit unerwünschten Individuen und Gruppen am Rande der Gesellschaft nicht viel Federlesens gemacht. Allerorten befeuerten schließlich Probleme und Stockungen in Industrie, Transportwesen und Landwirtschaft den Eifer der Verfolgungsorgane. Es wäre daher angebracht zu fragen, ob es irgendwo irgendeine nennenswerte ökonomische, soziale, politische Krisenerscheinung oder Problemlage gab, die nicht Eingang in die Dynamik des Terrors gefunden hätte.

Mit den geschilderten Charakteristika des Terrors hängt zusammen, dass dessen äußerst umfangreiche behördliche Dokumentation eine Mischung aus Exaktheit und Beliebigkeit kennzeichnet. Denn während für jedes Opfer eine eigene Untersuchungsakte angelegt werden musste, waren die angewandten administrativen Kategorien konstruiert, unscharf, wandelbar und wurden zudem oft gebeugt. Daher sind die Versuche vieler Autoren der Einzelstudien, aus ihnen Aussagen über den ‚echten‘ Hintergrund der Opfer zu gewinnen, nur bedingt erfolgreich. Wie sie selbst wiederholt konstatieren (und wie Hiroaki Kuromiya unlängst für Kiew unter Heranziehung handschriftlicher Rohfassungen von Verhörprotokollen, die den hier versammelten Autoren offenbar nirgends zugänglich waren, noch wesentlich klarer demonstriert hat), handelte es sich bei der Dokumentation fast aller Fälle um eine meist überaus ungleiche Mischung aus (bolschewistischer) Dichtung und ‚objektiver‘ Wahrheit. Allein, wo genau die Grenze verlief, lässt sich in den seltensten Fällen bestimmen. Die Analyse dieser Akten bestätigt daher letztlich vor allem, dass sie eben keinen ergebnisoffenen Versuch der Wahrheitsfindung dokumentieren, sondern Produkte des Drangs des bolschewistischen Systems sind, Übereinstimmung zwischen seinen Visionen und seinen Handlungen herzustellen.

Insgesamt ist den Herausgebern beizupflichten, wenn sie den Massenterror nicht als „Ausnahmezustand“ bezeichnen mögen. In ihrer überaus materialreichen und kompetent zusammengestellten Dokumentation erscheint er vielmehr als eine konsequent radikalisierte Fortführung der bolschewistischen Versuche, einer widersetzlichen Wirklichkeit Herr zu werden, und somit als extreme, doch folgerichtige Eskalationsstufe der bolschewistischen, von utopischen Ordnungsvisionen geleiteten Gewaltherrschaft.

Simon Ertz, Stanford, CA

Zitierweise: Simon Ertz über: Rolf Binner, Bernd Bonwetsch, Marc Junge Massenmord und Lagerhaft. Die andere Geschichte des Großen Terrors. Berlin: Akademie Verlag, 2009. = Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Moskau, 1. ISBN: 978-3-05-004662-4; Stalinismus in der sowjetischen Provinz 1937–1938. Die Massenaktion aufgrund des operativen Befehls № 00447. Hrsg. von Rolf Binner, Bernd Bonwetsch und Marc Junge. Berlin: Akademie Verlag, 2010. ISBN: Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Moskau, 2. ISBN: 978-3-05-004685-3; Stalinizm v sovetskoj provincii: 1937–1938 gg. Massovaja operacija na osnove prikaza № 00447 [Stalinismus in der sowjetischen Provinz 1937–1938. Die Massenaktion aufgrund des operativen Befehls № 00447]. Mark Junge, Bernd Bonveč, Rol’f Binner (sost.). Moskva: Rosspėn, Germanskij istoričeskij institut v Moskve, 2009. = Istorija stalinizma. ISBN: 978-5-8243-1242-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ertz_SR_Binner_Bonwetsch_Junge.html (Datum des Seitenbesuchs)

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